Körper–Ich: Körper im Zeitalter digitaler Technologien

26.09.2015 — 09.01.2016

Die Ausstellung Körper-Ich: Körper im Zeitalter digitaler Technologien zeigte Arbeiten der Künstler Yuri Ancarani, Kate Cooper, Melanie Gilligan und Thomas Thwaites, die sich mit dem menschlichen Körper, dessen Veränderbarkeit, Fragilität und Vergänglichkeit im Kontext einer digitalen und technologisierten Gesellschaft beschäftigen. Sie stellten Fragen nach den Möglichkeiten sinnlicher Erfahrung in Bezug auf das Ich: Wie erfahren wir die leiblichen Grenzen unseres Körpers? Wer bin ich ohne meinen Körper? Wer bin ich ohne die technischen Möglichkeiten von dessen Erweiterung? Im Zentrum der verschiedenen künstlerischen Ansätze stand die Auseinandersetzung mit dem Mensch-Sein, dem Grundverhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie mit der wechselseitigen Beziehung von physischer Existenz und geistiger Erfahrungswelt.

Technologien haben unser Verhältnis im Umgang mit Welt verändert, unsere Interaktionsmöglichkeiten erweitert und somit eine andere Wahrnehmung von Realität erzeugt. Die Arbeiten der vier eingeladenen Künstler eröffneten unterschiedliche Perspektiven auf die Optimierung der menschlichen Sinne und die Erweiterung der Wahrnehmung von Wirklichkeit durch Technologie. Sie reagierten dabei auf die aktuelle Tendenz der fortschreitenden Verlagerung des menschlichen Handelns und der sozialen Interaktion auf computergestützte Systeme und digitale Medien. So untersuchte Kate Cooper in ihrer Arbeit die computergenerierte Optimierung von medialen Bildern des weiblichen Körpers und warf Fragen über deren suggestive Macht auf. Der Konzeptdesigner Thomas Thwaites dagegen nutzte die vorhandenen Möglichkeiten der technischen Erweiterung, um sich in den Körper einer Ziege hinein zu versetzen und die Abhängigkeit des menschlichen Bewusstseins vom Körper zu erforschen. In ihren episoden-artigen Filmen imaginierte Melanie Gilligan Gesellschaftsszenarien, bei denen eine im Körper implantierte Technologie helfen soll Gemeinschaft neu zu formulieren. Der Filmemacher Yuri Ancarani bewegte sich mit hoch entwickelten chirurgischen Systemen in das Innere des Körpers, um die Gegenüberstellung zwischen Mensch und Maschine neu zu reflektieren.

Kate Cooper ist seit 2007 Mitglied der Künstlerinitiative Auto Italia South East. Ihre Arbeiten im Kollektiv als auch als Solokünstlerin drehen sich um Formen der alternativen künstlerischen Produktion. Sie befragt das Wesen und die Bedeutung der im digitalen Zeitalter entstehenden Bilder im Hinblick auf einen zeitgenössischen Hyperkapitalismus mit wachsender immaterieller Arbeit und der Auslagerung der Produktion in andere Teile der Welt. Die Arbeiten von Kate Cooper drehen sich um Formen der alternativen künstlerischen Produktion. In ihrer Installation Rigged verwendete Kate Cooper computeranimierte Bildgebungsverfahren für die Übersetzung des physischen Körpers in hyperrealistische und stereotype weibliche Modelle. Die von Cooper entworfenen Charaktere junger Frauen in Sportkleidung mit makellosen Körpern sind angelehnt an eine vertraute Werbeästhetik. Sie bewegen sich in leichtem Laufschritt durch eine sterile und digital animierte Umgebung ohne räumliche Tiefe oder sonstige natürliche Merkmale. Nahaufnahmen der computergenerierten Gesichter zeigen diese mit zahnmedizinischen Apparaturen oder verfolgen ihren Augenaufschlag mimetisch genau. Diese Motive wurden auch in den überlebensgroßen Vliestapeten aufgegriffen und verliehen den Figuren eine synthetische Übermenschlichkeit. Begleitet wurden die Bilder auf einer auditiven Ebene, in der eine weibliche, schmeichelnde Stimme den Traum eines alterslosen jugendlichen Körpers thematisierten, um schließlich den Slogan „Disappear completely“ beständig zu wiederholen. In Rigged – was übersetzt manipuliert oder zurechtgebastelt bedeutet – sind die weiblichen Figuren in ihrer überspitzten Perfektionierung und der symbolisierten Optimierung keine Repräsentanten einer real existierenden Körperlichkeit mehr. Die Künstlerin eignete sich die allgegenwärtige visuelle Sprache aus dem Bereich der Kommerzialisierung an, um deren Mechanismen speziell in Bezug auf den weiblichen Körper zu reflektieren und eine Neuinterpretation von feministischen Fragestellungen aufzuwerfen.

In seinem Projekt Holiday from humanity (I, Goat) versucht Thomas Thwaites über eine veränderte körperliche Wahrnehmung die eigene Perspektive als Mensch zu verlassen und einen anderen Blick auf die Welt einzunehmen. Durch einen Prozess aufwendiger anatomischer Untersuchungen und Materialstudien entwickelte er eine feinmechanische Konstruktion, die ihm den Gang einer Ziege auf vier Beinen ermöglicht. Darüber hinaus eignete er sich im Gespräch mit Experten ein vertieftes Wissen über das Leben der Tiere und ihr Sozialverhalten an. Schließlich lebte er im Selbstversuch einige Tage in einer Ziegenherde in den Schweizer Bergen. Thwaites versteht sich als spekulativer Designer, der sich in seiner Praxis mit Wissenschaften und Zukunftsvisionen beschäftigt. Komplexe philosophische Fragestellungen vermittelt er mit seinen Projekten auf eine humorvolle und essenzielle Weise. Mit dem Versuch die Perspektive einer Ziege einzunehmen, spricht er jenes Verlangen an, die Sichtweise unserer Gattung Mensch temporär zu verlassen, die Sinne zu verändern und somit über unsere anatomischen Anlagen hinaus zu wachsen. In den mit seinem Projekt zusammenhängenden posthumanistischen Diskussionen ist der moderne Gedanke eines evolutionären Fortschritts enthalten, bei dem die Steigerung der mentalen und physischen Leistungsfähigkeit durch Technologien im Vordergrund steht. Thwaites versucht, sich von diesem Gedanken zu lösen, wenn er danach strebt, ein Leben zu führen, in dem es tagtäglich um die einfachen Grundlagen des Seins in einem natürlichen Umfeld geht. In diesem spielen die Nahrungssuche, das Leben in der Gruppe und der Schutz vor äußeren Gefahren die zentrale Rolle. Er analysiert die Mechanismen der Natur und rekonstruiert sie durch Technologie nach. Den Empfindungen von Zeit und Raum versucht Thwaites nicht zu entfliehen, sondern sich ihnen durch eine sinnlich körperliche Erfahrung aus einer anderen Perspektive zu nähern. In seinem Selbstversuch erforscht er die Abhängigkeit des menschlichen Bewusstseins vom Körper und versucht mithilfe technischer Mittel eine veränderte Wahrnehmung von Realität herbeizuführen, die sich von einer anthropozentrischen Sichtweise lösen kann.

In ihren Videoinstallationen widmet sich Melanie Gilligan aktuellen Themen der Politik, vor allem dem Einfluss wirtschaftlicher Systeme auf Gesellschaft und Individuum. In episodenartigen Filmen imaginiert sie Gesellschaftsszenarien, die geprägt sind von dem Streben nach zwischenmenschlicher Empathie. In der Videoinstallation inszenierte Melanie Gilligan die ersten Episoden ihrer insgesamt dreiteiligen Sci-Fi-Serie The Common Sense. Die Geschichte entwickelt sich um eine Technologie mit dem einfachen Namen „Patch“. Wie eine Pastille wird sie im Gaumen platziert und ermöglicht dann eine emphatische Verbindung zu anderen Personen, die es erlaubt, deren Gefühle wahrzunehmen und nachzuempfinden. In dem Zukunftsentwurf von Gilligan existiert diese fiktive Technik, die in ihren Prinzipen an eine Gefühlsökonomie bereits heute existierender sozialer Netzwerke erinnert, bereits seit zehn Jahren. In dieser Zeit hat sich das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv maßgeblich verändert. Die Teilhabe an einer durch den „Patch“ konstruierten Gemeinschaft, in der die neue Technik auch als Instrument für Kontrolle und Überwachung dient, ist Voraussetzung für die soziale und die wirtschaftliche Existenz einzelner Personen. In der ersten Szene wird einer Klasse – und somit auch dem Zuschauer – anhand von Aufklärungsfilmen aus der Zeit der ersten Generation von „Patch“ gezeigt, mit welchen Visionen die neue Technologie verbunden wird. Im Verlauf der Episoden wird deutlich, dass in einigen Situationen tatsächlich das neugewonnene zwischenmenschliche Verständnis zu einem harmonischeren Zusammenleben geführt hat. Allerdings ist die entstandene menschliche Gemeinschaft nicht zu trennen von einem Kapitalismus, der Selbstoptimierung predigt und soziale Kontrolle durch Transparenz gewährleistet.
So wird das Individuum als Teil eines gesellschaftlichen Körpers im Hinblick auf seine physische Leistung und mentale Effizienz konditioniert. Gilligan befragt den Gegensatz zwischen einem als negativ gesehenen Individualismus und einem als positiv gewerteten kollektivem Verhalten, wenn die Gemeinschaft im Dienste eines ökonomischen Systems entsteht. In ihrer utopischen Vision spitzt Gilligan die Verlagerung von sozialen Interaktionen in einer virtuellen Welt zu und zeigt wie angreifbar diese Entwicklung für kommerzielle Erwartungen ist. In dem Szenario einer gesteigerten zwischenmenschlichen Verbindung thematisiert die Künstlerin die drängende Frage wie Zusammenleben gestaltet wird und welchen Stellenwert Individualität und Gemeinschaft dabei bekommen.

Der Hauptdarsteller in dem Film Da Vinci von Yuri Ancarani ist das technologisch hochentwickelte Operationssystem, das den Namen des italienischen Universalgelehrten trägt. Bei einer Operation mit dem „da Vinci Si Surgical System“ ist der Chirurg nicht mehr im direkten Kontakt mit dem Körper des Patienten, sondern sitzt an einer Konsole von der aus er die Hochpräzisionsinstrumente steuert. Eine Videoübertragung von dem Operationsgebiet durch mikroinvasive Technologie bietet ihm eine hochauflösende und mehrfach vergrößerte Sicht. Ancarani nutzte diese Aufnahmen für seinen Film, der von einem dokumentarischen Ansatz ausgehend eine existenzielle Fragestellung der Beziehung zwischen Mensch und Maschine thematisiert. Die sichtbaren feinen, anatomischen Strukturen tauchte der Videokünstler in blaue Farbtöne, die eine distanzierende Ebene hinzufügen. Ein dumpfer dröhnender Bass begleitet die im Operationssaal spürbare Spannung des anwesenden Teams von Ärzten und überträgt sie auf den Körper der BetrachterInnen. Im Gegensatz zu pessimistischen Zukunftsvorstellungen, in denen Roboter den Menschen ersetzen, veranschaulicht Ancarani mit seiner Arbeit die synergetische Einheit von Chirurg und Operationswerkzeug und hebt sich von einer reinen Gegenüberstellung von Mensch und Maschine ab. Da Vinci ist der dritte Teil einer Trilogie von Ancarani, in der er das Thema Arbeit aufgreift, indem er drei spezialisierte Berufsgruppen porträtiert. Neben den Chirurgen sind es in dem Film Il Capo (2010) Arbeiter in einem Marmor-Steinbruch und in Luna (2011) Aufnahmen von einer Hochseeplattform. In allen drei Filmen stehen die choreographierten Gesten, die Teil der Arbeitsprozesse sind, im Vordergrund.

Beteiligte Künstler: Yuri Ancarani (*1972, lebt in Mailand), Kate Cooper (* 1984, lebt in London), Melanie Gilligan (*1979, lebt in London und New York), Thomas Thwaites (*1980, lebt in London)

Die Ausstellung ist ein Beitrag zur B3 Biennale des bewegten Bildes 2015. Die zweite Ausgabe der B3 Biennale findet vom 7. bis 11. Oktober 2015 unter dem Leitthema „Expanded Senses. Mit allen Sinnen erleben und Grenzen verschieben“ in Frankfurt und der Rhein-Main-Region statt. Ziel der 2013 gestarteten Biennale ist es, eine breit angelegte interdisziplinäre und genreübergreifende Allianz für das bewegte Bild zu schaffen.

Die Themen der Ausstellungen „Körper-Ich: Körper im Zeitalter digitaler Technologien“ und „Roots. Indonesian Contemporary Art“ werden im Rahmen eines umfangreichen Begleitprogramms dialogisch vertieft. Highlight-Veranstaltungen sind die Podiums-diskussion „Roots. Indonesian Contemporary Art“ am 15.10.2015 mit allen an der Ausstellung beteiligten Künstlern sowie Asikin Hasan (Ko-Kurator), Dr. Amanda Rath (Dozentin für moderne und zeitgenössische Kunst aus Südostasien, Institut für Südostasien-Studien und Institut für Kunstgeschichte, Goethe-Universität, Frankfurt/Main) und Franziska Nori (Direktorin Frankfurter Kunstverein); am 22.10.2015 das Gespräch „Diversität und kulturelle Identität nach der Suharto-Autokratie in Indonesien“ mit Prof. Dr. Susanne Schröter (Ethnologin, Professorin am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt/Main) und Hendra Pasuhuk (Autor „Traum der Freiheit – Indonesien, 50 Jahre nach der Unabhängigkeit“ und Redakteur für den Südostasiatischen Raum bei der Deutschen Welle); und am 28.10.2015 der Vortrag „Die indonesische Gegenwartskunst im Visier des globalen Kunstmarktes“ von Matthias Arndt (Galerist in Berlin und Singapur, Experte für Kunst aus dem Südostasiatischen Raum).

Die Ausstellung ist ein Beitrag zur: