Anatomische Votive aus der Antikensammlung der Justus-Liebig-Universität Gießen
23 anatomische Votive
Präsentiert in der folgenden Reihenfolge: Votivkopf; Fragment einer Eingeweidetafel; Votivkopf, Fragment einer Hand mit Opfergabe (Gebäck); Fragment einer Votivfigur eines Mannes im Mantel mit geöffnetem Bauchraum; Votivkopf; Gestreckte linke Hand; Fuß; Votivaugen; Votivohren; Weibliche Brust; Votiv eines Uterus; Eingeweidetafel; Männliches Geschlechtsteil; Menschliche Blase; Eingeweidetafel; Votivfigur eines Wickelkindes; Menschliches Herz; Votivherz; Halbierter Votivkopf (linke Gesichtshälfte); Weiblicher Torso mit geöffneter Leibeshöhle.
3.-2. Jahrhundert v. Chr.
Terrakotta
Größe variabel
Courtesy Antikensammlung der Justus-Liebig-Universität Gießen
Ein Fuß, eine Hand, ein Ohr – geformt aus Ton und vor über zwei Jahrtausenden einer Gottheit anvertraut. Diese kleinen, stillen Objekte erzählen die Geschichten von Menschen, die ihre Verletzlichkeit in etwas Bildhaftes verwandelten. Sie sprechen von Krankheit und von Hoffnung, von dem Wunsch nach Heilung und von Dankbarkeit, wenn Genesung eintrat.
Dank einer Leihgabe aus dem Bestand der Antikensammlung der Professur für Klassische Archäologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen können in der Ausstellung Anatomie der Fragilität 23 etruskische Terrakotta-Votive gezeigt werden. Sie stammen aus der Sammlung des Anatomen Ludwig Stieda, der sie 1899 im heutigen Isola Farnese, das über den Ruinen der antiken Stadt Veji liegt, erwarb und 1913 der Antikensammlung der Universität Gießen schenkte. Veji war eine bedeutende Stadt der etruskischen Hochkultur, rund 15 Kilometer nordwestlich von Rom. Im Jahr 396 v. Chr. wurde sie von den Römern erobert.
Die Körperteilvotive der Gießener Antikensammlung stammen aus dem Heiligtumsdepot Pendici di Piazza d’Armi und datieren überwiegend ins späte 3. bis mittlere 2. Jahrhundert v. Chr. Sie gehören zu den frühesten erhaltenen Zeugnissen einer religiösen Praxis, die in verschiedenen Kulturen über Jahrtausende fortgeführt wurde.
Da dieser Brauch weitverbreitet war, füllten sich die Heiligtümer rasch. Um Platz für neue Weihgaben zu schaffen, wurden bei den Heiligtümern Depots in Form von Gruben angelegt, in denen die Votive gesammelt wurden.
Die anatomischen Votive zeigen Köpfe, Hände, Füße, Geschlechtsorgane und innere Organe. Hergestellt wurden die meisten Votive aus gebranntem Ton. Das leicht verfügbare und kostengünstige Material war einfach zu verarbeiten. Mithilfe von Negativformen konnten solche kleinen Votive seriell gefertigt werden.
Aufwendiger waren die Torsi mit geöffneter Körperhöhle, die teilweise individuell von Hand ausgearbeitet wurden. Die flachen Eingeweidetafeln waren dagegen eine vereinfachte und preiswertere Variante derselben Darstellung.
In der Ausstellung Anatomie der Fragilität treten die etruskischen Votive in einen räumlichen Dialog mit Objekten aus der Sammlung von Hans und Benedikt Hipp aus Pfaffenhofen in Bayern, deren Bestand an Votivgaben und zugehörigen Holzmodeln vom Barock bis in die Nachkriegszeit reicht.
Trotz überraschend konstanter bildhafter Darstellung der Körperteile ist die Gebärmutter eine Ausnahme: In den bayerischen Votiven der Hipp-Sammlung erscheint sie in Gestalt einer Kröte – eine Symbolform, die auf antike Vorstellungen zurückgeht. Die etruskischen Uterus-Votive hingegen orientieren sich an der tatsächlichen anatomischen Form des weiblichen Organs. Mit einer Besonderheit: bei Röntgenaufnahmen des etruskischen Uterus wurde festgestellt, dass sich in dessen Inneren ein von außen nicht sichtbarer Körper befindet, der mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Embryo repräsentiert.
Hände, Füße, Augen, Ohren oder innere Organe sind in beiden Sammlungen in reduzierten, klaren Formen erkennbar. Die für die Etrusker typische Darstellung innerer Organe wurde oft aus den anatomischen Kenntnissen abgeleitet, die durch die Sezierung von Schlachttieren gewonnen wurden. Die teils verblüffende Genauigkeit der etruskischen Votive wirft jedoch die Frage auf, ob das Wissen allein auf Tierbeobachtungen beruhte – oder auf Erfahrungen mit menschlichen Körpern, etwa von auf dem Schlachtfeld Getöteten, oder sogar auf frühen Operationen oder Sezierungen.