Anatomische Wachsfiguren der Sammlungen „Luigi Cattaneo“ und Museum Palazzo Poggi, Universität Bologna
Für die Ausstellung Anatomie der Fragilität wurden ausgewählte Werke aus den Sammlungen des Museums Palazzo Poggi und “Luigi Cattaneo” der Universität Bologna zusammengeführt. Beide Sammlungen bewahren mehrere Tausend Objekte, darunter befindet sich einer der bedeutendsten Bestände anatomischer Wachsmodelle Europas. In der Ausstellung sind exemplarische Stücke aus verschiedenen Epochen und von unterschiedlichen Künstler:innen zu sehen. Ab dem 18. Jahrhundert machte die Bologneser Universität Kunst und Wachs zu einem Mittel, um den menschlichen Körper anschaulich zu erforschen und wurde so zum Vorreiter der Medizin.
Die Alma Mater Studiorum ist die älteste Universität des europäischen Kontinents. Sie geht auf das Jahr 1088 zurück. Unter zahlreichen weiteren Persönlichkeiten studierten dort Petrarca, Dante Alighieri und Kopernikus, aber auch Pier Paolo Pasolini und Umberto Eco. Die Vorbildfunktion der Universität Bologna trug zur Gründung zahlreicher weiterer Universitäten in ganz Europa und zur Verbreitung des modernen Universitätsmodells bei. Schon früh verband sich in Bologna anatomische Forschung mit künstlerischer Darstellung. Die Förderung durch die katholische Kirche spielte dabei eine entscheidende Rolle. Sie sicherte zudem den Künstler:innen eine offizielle Funktion in der Darstellung und Vermittlung anatomischen Wissens.
Die Wissenschaft der Anatomie begann im antiken Alexandria im 3. Jahrhundert v. Chr. mit den ersten wissenschaftlichen Sektionen des menschlichen Körpers, obwohl das Wissen über den menschlichen Körper lange Zeit vor allem durch die Sektion von Tieren erworben wurde. Jahrhundertelang, von der Antike bis zur Renaissance, blieb der Blick ins Innere des menschlichen Körpers streng geregelt. Religiöse, moralische und gesellschaftliche Vorschriften bestimmten, was erlaubt war. Anatomische Sektionen durften oft nur unter besonderen Umständen stattfinden. Die Lehre des Körpers wurde zunächst an Universitäten wie Bologna anhand antiker Schriften vermittelt, ohne das Wissen am Körper zu überprüfen.
In der Renaissance begann sich dieses Verbot zu lockern. Künstler wie Leonardo da Vinci oder Michelangelo wollten den menschlichen Körper so genau wie möglich darstellen. Ihre Arbeit trug dazu bei, dass auch die katholische Kirche den wissenschaftlichen Wert der Anatomie anerkannte. Anatomische Studien galten nicht als Widerspruch zum Glauben, sondern als ergänzender Weg zum Verständnis des menschlichen Körpers als Höhepunkt der Perfektion Gottes.
Bereits im späten 16. Jahrhundert wurde in Bologna das erste Anatomische Theater eingerichtet. Dort konnten Leichensektionen vor Studierenden und Interessierten durchgeführt werden. Zugleich entstanden erste Sammlungen präparierter Körperteile und Organe. Doch die Nutzung echter Leichname war begrenzt: Sie verfielen schnell, standen nur in geringer Zahl zur Verfügung und konnten aus hygienischen Gründen nicht unbegrenzt für Unterricht und Forschung eingesetzt werden.
Um Studierenden und Forschenden dennoch einen genauen Blick in den menschlichen Körper zu ermöglichen, entstand die enge Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft – mit einer besonders pragmatischen Lösung: Wachs. Formbar, widerstandsfähig und farblich realistisch einfärbbar, erlaubte dieses Material dauerhafte und naturgetreue Reproduktionen des menschlichen Körpers. Kein anderes Medium wirkt so lebensecht. Die Wachsfiguren aus Bologna zeigen Muskeln, Organe und Nervenbahnen. Einen Blick unter die Haut. Sie ermöglichten Studierenden wie Forschenden, den Körper genau zu studieren, ohne auf fragile Leichname angewiesen zu sein.
Die Geschichte der anatomischen Wachsfiguren zu didaktischen Zwecken begann in Bologna. 1742 förderte Papst Benedikt XIV., der „Papst der Aufklärung“, die Einrichtung des Anatomischen Kabinetts im Palazzo Poggi. Dort waren die Akademie der Wissenschaften und die Akademie für Malerei, Bildhauerei und Architektur unter einen Dach vereint. Künstler:innen und Wissenschaftler:innen arbeiteten Seite an Seite, um den menschlichen Körper in Wachs naturgetreu darzustellen. Im Auftrag des Papstes schuf der Künstler Ercole Lelli die ersten lebensgroßen Wachsfiguren, die Schicht für Schicht Muskulatur und Skelett zeigten. Damit begann in Bologna die moderne anatomische Wachsplastik – eine Tradition, die über 150 Jahre andauerte.
Die ersten Wachsmodelle entstanden für Lehre und Ausbildung. Später nutzten Ärzt:innen Wachsmodelle auch zur Forschung und Diagnose pathologischer Zustände. Aus diesen Arbeiten entwickelten sich schließlich Sammlungen, die die Anatomie systematisch dokumentierten.
Heute können Besucher:innen an der Universität Bologna zwei bedeutende Bestände entdecken: Das Museum Palazzo Poggi bewahrt die rekonstruierten Sammlungen und Labore, wie das Anatomische Kabinett, des ehemaligen Istituto delle Scienze e delle Arti. Es zeigt, wie Wissenschaft, Kunst und Medizingeschichte hier zusammenflossen. Ergänzt wird dieser Bestand durch die Sammlung anatomischer Wachsmodelle “Luigi Cattaneo”, die normale und pathologische Anatomie veranschaulicht. Präparate aus Wachs, Knochen und Trockenpräparaten bilden ein illustratives didaktisches Ensemble und zeigen, wie die Universität Bologna zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert zur europäischen Exzellenz in der medizinischen Forschung wurde.