Die Anatomin Anna Morandi Manzolini

Muscoli estrinseci dell’occhio (Extrinsische Augenmuskeln), 18. Jahrhundert (1755–1769)
Anatomisches Modell aus bemaltem Wachs, Holz, Stoff
35 x 35 x 7 cm

Courtesy Alma Mater Studiorum – Universität Bologna | Museales System der Universität | Museum Palazzo Poggi

 

Der Sehsinn nimmt für den Menschen schon immer eine Sonderstellung ein. Er ist eine wesentliche Fähigkeit des Körpers, durch die dieser mit der Außenwelt in Austausch kommt. Sehen formt die Wahrnehmung der Wirklichkeit und erzeugt in der Folge Worte und Bilder für das Erfassen der Welt. Das Wort „Theorie“ beruht auf dem altgriechischen Verb „theorein“, das „anschauen“ bedeutet. Die Geschichte des Sehens ist eng mit der Geschichte der Wissenschaft, der Philosophie und der Kunst verbunden. In der Antike glaubte man, dass das Auge Sehstrahlen aussendet oder auch, dass Gegenstände Bilder aussenden, die das Auge empfängt. Erst Leonardo da Vinci erkannte durch seine anatomischen Sektionen die Beschaffenheit und Funktionsweise des Auges.

Und so nimmt das anatomische Modell der Augenmuskulatur aus der Sammlung des Museums Palazzo Poggi in Bologna eine bedeutsame Rolle in der Wissensgeschichte um den menschlichen Wahrnehmungsapparat ein. Seine Autorin ist Anna Morandi Manzolini (1714–1774). Sie war Anatomin und Künstlerin. Gemeinsam mit ihrem Mann Giovanni Manzolini (1700–1755) arbeitete sie in Bologna. Nach dem Tod ihres Mannes führte Anna Morandi Manzolini die Arbeit allein fort. Ausgebildet als Malerin und Bildhauerin, vereinte sie das Können aus Kunst und Anatomie. In einer Zeit, in der Frauen in diesen beiden Disziplinen kaum sichtbar waren, war sie eine Ausnahmeerscheinung.

Anders als damals üblich, stellte das Ehepaar Morandi Manzolini nicht ganze Körper in Wachs dar. Sie entwickelten eine eigene Methode und konzentrierten sich auf einzelne Organsysteme. Sie entnahmen und sezierten sie und bildeten sie in Wachs nach. Es entstanden besonders detailreiche Modelle einzelner Organe, die für die Ausbildung von Mediziner:innen und Anatom:innen gefertigt wurden. Dabei verzichteten sie auf ikonografische oder allegorische Ausschmückungen.

Anna Morandi Manzolinis sorgfältige Autopsie von Tausenden Körpern führte zu zahlreichen neuen Erkenntnissen und zur Korrektur mancher überlieferter Fehlannahmen. Jedem ihrer Modelle fügte sie eine präzise Beschreibung der Strukturen und ihrer Funktionen bei. Sie begann mit einer akkuraten Beobachtung, wonach sie erst sezierte. Auf den manuellen Prozess folgte das geschriebene Wort als Beschreibung dessen, was die Hand ertastet hatte. Auch heute wird diese Methode in der medizinischen Ausbildung angewandt. Nach der schriftlichen Erfassung wurde dann das Bild in Wachs geformt.

Sehen und Tasten waren ihre wichtigsten Werkzeuge der Erkenntnis. Vielleicht war es kein Zufall, dass sie gerade den Sinnesorganen ihr größtes Interesse widmete, so die Kunsthistorikerin Prof. Lucia Corrain vom Museum Palazzo Poggi. Die Universität Bologna verwahrt ein 250 Seiten starkes Manuskript Anna Morandi Manzolinis mit Anleitungen, Notizen und Beschreibungen.

Ein Beispiel ihrer meisterhaften Wachsmodelle ist die Serie blauer, achteckiger Holztafeln, auf denen Anna Morandi Manzolini ein Auge in unterschiedlichen Stadien der anatomischen Ablösung von Gewebeschichten darstellte. Auf der Tafel Muscoli estrinseci dell’occhio (Extrinsische Augenmuskeln) liegt mittig der freigestellte Glaskörper eines Auges mit seinen unterschiedlichen Muskeln. Ihre Ansätze wirken wie die Arme eines Seesterns. Die sechs Augen rundherum zeigen die unterschiedlichen Bewegungen des Auges, die diese Muskeln erlauben. Rechts ist ein weiteres Auge zu sehen. Es ist aufgeklappt, der Sehnerv liegt frei.

Die Werkstatt für Wachsplastik in Bologna war die erste ihrer Art. Von hier aus gelangte dieses innovative Kunsthandwerk als Technik wissenschaftlicher Erkenntnis und Bildgebung zuerst nach Florenz und verbreitete sich dann in ganz Europa. Papst Benedikt XIV. stiftete das anatomische Kabinett, in dem das Ehepaar Morandi Manzolini arbeitete, bis sie ihr eigenes Labor gründeten. Besonders Anna Morandi Manzolinis Arbeiten zogen das Interesse von Fürstenhöfen, Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften in ganz Europa auf sich. Doch sie blieb in Bologna.

Als Honorarprofessorin am Istituto delle Scienze galt sie als bedeutendste Wachsbildnerin ihrer Zeit. Dennoch war sie den geschlechtsspezifischen Ungleichheiten ihrer Zeit ausgesetzt. Sie erhielt weniger Lohn als männliche Kollegen und wurde in späteren Quellen oft nur als Assistentin ihres Mannes dargestellt, wie ihre Biografin Rebecca Messbarger betont.

Im Museum Palazzo Poggi ist auch ihr Selbstporträt in Wachs zu sehen. Es flankiert das Porträt ihres Mannes. Anders als die üblichen Darstellungen von Frauen in anatomischen Wachsfiguren – als toter Körper, beschämte Eva oder sexualisierte Venus – zeigt sich Anna Morandi Manzolini im aristokratischen Kleid, das Skalpell über ein menschliches Gehirn führend. Damit präsentiert sie sich bewusst auf gleicher Ebene wie ihr Mann, der im Gegenstück ein Herz seziert.