The Alternative Limb Project
Materialise, 2015
Armprothese
3D-Druck, CNC-Fräsung, handgeschnitzt und -geformt, unter Verwendung von Stahl, Stein, Erde, Holz, Moos, Öl, Kork, Wolle, Bronze, Rhodium, Gold und Magneten
50 x 13 x 13 cm
VINE 2.0, 2022
Armprothese
Harz, Elektronik, Metallkomponenten und vergoldetes Metall
70 x 14 x 14 cm
Foto- und Videoinstallation mit Fotos von Rosie Williams, Ewelina Stechnij, Louie Banks, Lukasz Suchorab, Omkaar Kotedia, Rosemary Williams, Simon Clemenger, Andrew Perris
Courtesy The Alternative Limb Project
Sophie de Oliveira Barata ist Designerin, Künstlerin und Prothetikerin. Ihre Arbeit entsteht mit Menschen, die dank einer künstlerischen und künstlichen Erweiterung eine selbstermächtigte Form ihres Körpers entwerfen und tragen. „Prothese“ leitet sich vom Griechischen „hinzufügen“ ab. Im medizinischen Sinn bezeichnet sie ein künstliches Körperteil, das ein fehlendes Glied ersetzt. Doch im Kontext des Alternative Limb Project bedeutet das Hinzufügen mehr. Es handelt sich nicht rein um eine Ergänzung des Körpers, um den Ersatz einer Gliedmaße. Ihre „Alternativen Gliedmaße“ sind ein Empowerment der Persönlichkeit. Sie sind Ausdruck eines Körpers, der durch unsere eigenen Erzählungen eine selbst gewählte, erweiterte Form annimmt.
Das Fehlen einer Gliedmaße – ob von Geburt an, durch Unfall oder wegen einer medizinischen Notwendigkeit – ist seit jeher mit gesellschaftlicher Stigmatisierung verbunden. Die Idee eines nicht der Norm entsprechenden Körpers trägt für betroffene Menschen häufig zu Ausgrenzung und Scham bei. Prothesen können fehlende Funktionen des Körpers teilweise kompensieren. Mit fortschreitender Technik auch so, dass der Unterschied zwischen Körper und künstlichem Teil weitgehend unauffällig und unsichtbar bleibt.
Sophie de Oliveira Barata steht für eine Arbeit, die den Träger:innen nicht nur eine funktionstüchtige Prothese zur Verfügung stellt, sondern gemeinsam mit ihnen eine Idee der stolzen Andersartigkeit entwickelt. Es geht um ein Empowerment ihres Seins und das Tragen eines Schmucks, der ihre Körper erweitert und für die Einmaligkeit der Träger:innen steht. So nennt de Oliveira Barata ihre Objekte nicht Prothesen, sondern offensiv „Alternative Gliedmaße“ – dort wo das Alternative für Erweiterung und Unnachahmlichkeit steht.
De Oliveira Baratas Arbeiten verbinden Wissenschaft, Technologie, Medizin und Kunst. Hinter jedem ihrer Projekte und Objekte steht eine individuelle Person mit ihrer persönlichen Geschichte und ihrer Psychologie. De Oliveira Barata arbeitet heute mit vielen Gewerken und Spezialist:innen zusammen, darunter Elektronikingenieur:innen, Maschinenbauingenieur:innen, Orthopädietechniker:innen, traditionelle Handwerker:innen (Holzschnitzer:innen), Metallarbeiter:innen und Schmuckdesigner:innen. Zusätzlich zu viel handwerklicher Arbeit nutzt de Oliveira Barata auch Verfahren wie 3D-Druck und computergestütze Fräsung.
Nach einem Kunststudium begann de Oliveira Barata beim Film als Fachfrau für Spezialeffekte. Danach wechselte sie in den medizinischen Bereich, wo sie acht Jahre lang in einem Rehabilitationszentrum mit Menschen mit Amputationen arbeitete. Danach entschied sie, nicht mehr nur hyperrealistische Nachbildungen zu fertigen, sondern mit den Betroffenen Prothesen als künstlerische und persönliche Ausdrucksform zu entwickeln. Dort wo anfänglich Realismus der Anspruch war, wo es darum ging, den Prothesen ein möglichst naturidentisches Aussehen und eine optische Übereinstimmung mit dem Körper zu verleihen, erweiterte sie den Anspruch an ein Artefakt, das vom Individuum erzählt. Körper verändern in ihrer Lebendigkeit und Veränderlichkeit Aussehen und Form. Die Hautfarbe schwankt nach aktuellem Stand der Durchblutung und Sonneneinwirkung, die Körperform nach der Tageszeit oder Gewichtsveränderung oder Alterungsprozess. Das Statische der Prothese bleibt ein Gegenpol.
Die Arbeit an hyperrealistischen Gliedmaßen beginnt mit einer Schaumform, die das fehlende Körperteil nachbildet. Anschließend wird ein Silikonabguss erstellt, der maßgeschneidert zum Körper passt. Hautoberflächen entstehen aus Silikon, das mit Pigmenten eingefärbt und in vielen Schichten aufgetragen wird, bis der natürliche Hautton erreicht ist. Um die Transluzenz echter Haut zu erzeugen, wird das Material gedehnt und mit feinen Fasern durchzogen. Dann folgen die Details: Muttermale, Narben, Sommersprossen, Falten oder Tattoos – alles kann individuell ergänzt werden. Auch Nägel werden in Form, Farbe und Länge angepasst. Auf Wunsch kann Nagellack verwendet werden. Die Auftraggeber:innen sind während des gesamten Prozesses eingebunden und entscheiden, welche Details ihnen wichtig sind. So entsteht ein Stück, das so echt wirkt, dass es sich ins Leben der Träger:innen einfügt.
Wenn es nicht um Täuschung, sondern um Ausdruck geht, arbeitet de Oliveira Barata freier. Die Prothese wird dann zur Skulptur, zum Accessoire oder Kunstobjekt. Auch hier beginnt alles mit Gesprächen: Was will die tragende Person zeigen? Welche Geschichte soll das Objekt erzählen? Das Team kombiniert zahlreiche handwerkliche Techniken, um ein einzigartiges Stück zu schaffen.
Denn de Oliveira Barata erkannte früh, dass Menschen sich nach etwas anderem sehnten als allein nach dem Ersatz eines fehlenden Gliedmaßes und dessen Funktion. Sie suchten Heilung. Sie ging auf die Suche nach Personen, die mit ihr einen neuartigen Ansatz für artifizielle Gliedmaße entwickeln würden. Die erste war Viktoria Modesta, eine britische Sängerin und Model. Nach ihr kamen paralympische Athlet:innen, Musiker:innen, Künstler:innen, ehemalige Soldat:innen, die sich ihren Traum von einem funktionalen Zusatz ihres Körpers erfüllten. Ihre „Alternativen Gliedmaße“ tragen sie mit Stolz, sie stehen für den Ausdruck ihrer Persönlichkeit und Identität.
Das Andersartige, das in einer Mehrheitsgesellschaft immer noch als anormal gelten kann, wird hier zum Schmuck und in eine offensive Geste nicht des Vertuschens, sondern des Feierns umgekehrt. Spielerisch, mutig, humorvoll und schön anstelle einer Opferhaltung, die das Mitleid anderer weckt. Dies ändert vollständig die Beziehungen und das Selbstbild.
De Oliveira Baratas Prothesen verbergen körperliche Unterschiede nicht – sie machen sie sichtbar. Sie verwandeln sie in etwas Besonderes und geben ihnen eine eigene Kraft. „Ich mag es, diese Stücke zu machen“, betont Sophie de Oliveira Barata, „weil sich die Gespräche ändern – von Mitleid zu Staunen.“ Die „Alternativen Gliedmaße“ eröffnen den Dialog über die Idee von menschlichem Körper, über Unterschiede in Körperbildern und feiern diese.
„Wenn Menschen ihre alternativen Prothesen tragen, verändert sich oft ihre Haltung“, sagt Sophie de Oliveira Barata. „Das liegt daran, dass sie selbst am Entstehungsprozess beteiligt waren – und daran, dass die Stücke Aufmerksamkeit erregen. Statt Mitleid erfahren sie Neugier, manchmal sogar Bewunderung. Das gibt ihnen Kraft. Manche tragen ihre Prothesen zu besonderen Anlässen und schlüpfen dann in eine Art Alter Ego. Andere machen sie zu einem festen Teil ihrer Identität.“
Die Ausstellung Anatomie der Fragilität im Frankfurter Kunstverein zeigt zwei Arbeiten aus der Serie des Alternative Limb Project. Eine ist als funktionale Prothese entstanden, die andere als Objekt mit ästhetischer Priorisierung.
Materialise ist ein alternativer Arm für die Aktivistin und das Model Kelly Knox. Er ist in der Länge in zwei Hälften geteilt: eine Seite besteht aus Silikonhaut, die andere aus zahlreichen Materialien: Stahl, Stein, Erde, Holz, Moos, Öl, Kork, Wolle, Bronze, Rhodium und Gold. Je nach Gefühlslage und Stimmung der Trägerin können die Elemente ausgetauscht werden. Dies verändert nicht nur die Beschaffenheit, sondern auch das Gewicht des Arms. Kelly Knox entscheidet selbst, wie sie ihren Arm tragen will. Gefertigt wurde der Arm mit 3D-Druck- und CNC-Fräsverfahren, viel Handarbeit und Kunsthandwerklichkeit. Die Hautseite ist eine realistische Nachbildung des rechten Arms der Trägerin in silikonartigem Material. Sie steht für Kelly Knoxs körperliche Seite. Die Materialienwahl repräsentiert individuelle, emotionale und spirituelle Aspekte ihrer Persönlichkeit.
Für Kelly Knox entstand auch VINE 2.0. Diese „Alternative Gliedmaße“ entfernt sich noch dezidierter von einer Idee und Ästhetik realistisch anmutender Körperteile. Der Arm wird zum tentakelartigen Gebilde aus 26 Wirbelgliedern. Über Drucksensoren im Schuh steuert die Trägerin die Bewegungen des Armes. Künstliche Sehnen ziehen sich zusammen oder lockern sich und erzeugen geschmeidige Bewegungen. Durch einen Elektromagnet wird die Prothese an eine Metallvorkehrung per Clip-on-System mit dem Körper verbunden. Schaltkreise, Batterien und Sensoren übertragen nun die Impulse des Organismus durch Bluetooth auf das alternative Körperteil.
VINE 2.0 scheint der Denkerin Donna Haraway einen Tribut zu zollen. Diese stellt unter dem Begriff des „tentakulären Denkens“ eine Weltsicht infrage, in der sich der Mensch mit seiner spezifischen Körperlichkeit und seinen Bedürfnissen zum Zentrum der Schöpfung erhebt. Haraway plädiert für eine Überwindung der typisch westlichen Denkweise in Dualismen: Mensch-Tier, Natur-Technik und Körper-Geist. Die Zukunft von Identität und Körper entsteht jenseits dieser binären Kategorien. In ihrem Cyborg-Manifest wählt Haraway die Figur eines Mischwesens aus biologischem Organismus und Maschine als eine Metapher für emanzipatorische Zwecke und um patriarchale Strukturen zu überwinden.
Für Anatomie der Fragilität hat der Frankfurter Kunstverein mit Sophie de Oliveira Barata eine umfassende Auswahl an Dokumentationsfilmen, Fotos und technischen Zeichnungen zusammengestellt. Weil die zahlreichen Objekte den Träger:innen gehören, berichten diese von der einzigartigen Arbeit.
The Alternative Limb Project wurde von Sophie de Oliveira Barata (*1982 London, GB) gegründet. Ihre Werke wurden international in Institutionen wie dem National Museum of Scotland in Edinburgh (UK); dem Musée de l’Homme in Paris (FR); der Ars Electronica in Linz (AUT); dem Museum of Science and Industry in Chicago (USA); dem Science Museum in London (UK); dem Museum Arnhem (NL) und dem Museum Ulm (DE) präsentiert. Sophie de Oliveira Barata hält regelmäßig international Vorträge, zuletzt bei TED X in London (UK); TED MED in San Francisco (USA) und dem Henry Moore Institute in Leeds (UK).