Abstract von Prof. Dr. Thomas Biebricher

Moderater und radikaler Konservatismus – eine sinnvolle Unterscheidung?

Die Festlegung der spezifischen Bedeutung des Konservatismus hat sich in den letzten zweihundert Jahren als eine Herausforderung erwiesen, nicht nur für politische Theoretiker, sondern auch für jene Akteure in der Politik, die dieses Etikett entweder mit Nachdruck beanspruchen oder ablehnen. In letzter Zeit wurde eine der hitzigsten Debatten um die Definition des Konservatismus durch den Aufstieg rechtspopulistischer, oder besser gesagt autoritärer politischer Kräfte entfacht, die versucht haben, sich den Begriff für ihre eigenen Projekte anzueignen, indem sie behaupteten, sie seien eine wahrhaft konservative Alternative zum lauwarmen Konservatismus etablierter Mitte-Rechts-Parteien und intellektueller Traditionen.

In diesem Vortrag möchte ich die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen einem gemäßigten Konservatismus, der sich aus einer Traditionslinie speist, die auf Edmund Burke, Michael Oakeshott und andere zurückgeht, einerseits und einem radikalen Konservatismus, der sich auf eine andere Tradition beruft und letztlich in einen rechten Autoritarismus kollabiert, andererseits untersuchen. Obwohl es in einigen Aspekten ihrer politischen Agenden Ähnlichkeiten geben mag, argumentiere ich, dass diesen beiden Traditionen grundlegend unterschiedliche Vorstellungen davon zugrunde liegen, was es bedeutet, konservative Politik zu betreiben. Während die eine sich der Bewahrung bestimmter Aspekte des Status quo und der Kultivierung schrittweiser und „organischer“ Veränderungen verschrieben hat, ist die andere der Überwindung des Status quo verpflichtet, der als irreparabel korrumpiert angesehen wird. Die letztgenannte Tradition ist also seltsamerweise auf einen fast rebellischen Politikmodus ausgerichtet und im Gegensatz zur pragmatischen Akzeptanz des sozialen Wandels, die die gemäßigten konservativen Traditionen kennzeichnet, ist sie auf eine reaktionäre Umstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse – insbesondere in Bezug auf Geschlecht und Familie – aus. Es handelt sich also um ein wahrhaft paradoxes Phänomen, das fast revolutionäre Bestrebungen mit einer diffusen Ehrfurcht vor einer idealisierten Vergangenheit verbindet.

In meinem Vortrag werde ich mich hauptsächlich auf den deutschen Kontext konzentrieren, aber die Implikationen der Schlussfolgerungen sind auch für einen breiteren europäischen und transatlantischen Kontext relevant.