Lisa-Sophie Gehrmann

Horizontsucher, 2023
Fünf Latex-Reliefs
120 x 80 cm, 160 x 130 cm, 50 x 140 cm

Narrenfreiheit, 2023
Vier 3D-Drucke, Öl-Farbe, Gips
50 x 27 x 20 cm, 50 x 22 x 20 cm, 50 x 26 x 27 cm

Courtesy die Künstlerin

Lisa-Sophie Gehrmanns künstlerische Praxis hat ihren Ursprung in der Zeichnung und ist geprägt durch den eklektischen Einsatz verschiedener Ideen, Techniken, Materialien, Stilelemente und Bildmotiven. Ob mit Bleistift auf Papier, in glasierte Keramiken mit offenen Formen, in Reliefs, 3D Zeichnungen und Drucke, immer handelt es sich um fantastische Figuren, die ihre visuellen Welten bewohnen. Die Wesen sind das Ergebnis einer Worldmaking-Praxis, die sie als Fragmente unterschiedlicher Bezugssysteme herauslöst und verwendet. Viele Elemente stammen aus einer fiktiven surrealen Welt, andere haben symbolhafte Züge und verkörpern soziale Bräuche oder menschliche Eigenschaften, die die Künstlerin faszinieren.

Ihre Figuren befinden sich immer in einem angedeuteten Naturumfeld und werden oft von Tieren begleitet, die an Insekten erinnern. Es handelt sich um Urzeitkrebse, lebendige Fossilien, die älteste bekannte noch lebende Tierart auf unserem Planeten. Die Anatomie der Tiere sowie der Menschen ist markant gezeichnet. Auffällig ist die Ausführung der Knochen, die bei Gehrmann nicht für Trauer und Tod stehen, sondern zum Symbol der Ewigkeit werden. Mit den dreidimensionalen Einzelfiguren greift die Künstlerin das Motiv des Fauns auf. Diese Figur aus der griechischen Mythologie steht als Gottheit der Natur und des Waldes, als Mischwesen, zwischen Mensch und Tier. Diese Figuren schillern zwischen Faun, Satyr, Pan und Narr. Ihre Wesen tragen eine selbstbewusste Sinnlichkeit und Erotik zur Schau, die ihre Freiheit und Subversivität zu feiern scheinen.

Gehrmann zeichnet Archetypen als Urbilder, die mit bestimmten Eigenschaften verbunden werden. Es geht um das Triebhafte im Menschen, um dessen Irrationalität und um eine Faszination für Randfiguren der Gesellschaft. Einige tragen eine Kopfbedeckung, die an phrygische Mützen erinnern. Diese sind historisch konnotiert und stehen oft als Symbol des Widerspruchs und der Unabhängigkeit. Die Kappe gab es in den unterschiedlichsten kulturellen Referenzräumen: vom antiken Rom, wo sie von befreiten Sklav:innen getragen wurde, bis zur französischen Revolution als Allegorie für Freiheit und Republik. Andere Figuren sind als Till Eulenspiegel oder Narren zu erkennen. In sämtlichen Kulturen galt für Hofnarren die Narrenfreiheit, die es ihnen ermöglichte, ungestraft Kritik und Satire an den bestehenden Verhältnissen zu üben. Als Außenstehende der Gesellschaft verkörpern Narren den Geist der Meinungsfreiheit, indem sie auf humorvolle Weise Missstände der Gesellschaft thematisieren.

Damit verbunden sind in ihren Zeichnungen kindhafte Figuren. Auch Kinder lassen sich nicht einordnen in das Schema einer gesellschaftlichen Funktionsweise: sie haben noch kein historisches Gedächtnis oder soziale Prägung. Mit ihrer oft unvoreingenommenen Haltung sind sie frei in ihren Handlungen.

Für den Frankfurter Kunstverein wurde eine Präsentation konzipiert, die Einblick in neue Experimente und die aktuelle Arbeitsweise Gehrmanns gewährt: Latex-Reliefs und mit 3D-Druckern erzeugte Plastiken. Haptik spielt dabei immer eine Rolle. Die Latex-Reliefs sind die Weiterführung einer Praxis, die Gehrmann schon seit mehreren Jahren durchführt. Sie ritzt auf frischen Tonplatten ihre Zeichnungen ein und gießt sie dann mit Latex auf. Die daraus entstandenen Negativformen lassen die Zeichnungslinien erhaben und dreidimensional aussehen. Die Latex-Reliefs werden dann mit silberner Farbe bearbeitet, wodurch eine monochrome Ästhetik die Anmutung von Fossilien erzeugt wird.

Diese Praxis des Zeichnens auf Ton erinnert an die frühen Techniken des Schreibens auf Oberflächen. Bereits in der Frühantike ritzten Menschen mit einfachen Werkzeugen Schrift und Zeichnungen in Tonplatten ein, wodurch sie zu ersten Formen schriftlicher Aufzeichnung die Zeit überdauerten.

Lisa-Sophie Gehrmann (*1999 in Gera, DE) studiert seit 2019 an der Hochschule für Gestaltung Offenbach bei Prof. Manfred Stumpf mit Schwerpunkt auf Keramik und Zeichnung. 2021 erhielt sie die Stipendien der Cusanus und Johaness-Mosbach-Stiftung. Lisa-Sophie Gehrmann präsentierte ihr Werk im Haus der Stadtgeschichte, Offenbach am Main (DE) und war 2021 Teil des Ausstellungsprojektes Frankfurter Kunst Vertrieb des Kollektives Magma Maria, das im Frankfurter Kunstverein präsentiert wurde.