Postskriptum: Gegenforensik

Der Raum „Postskriptum“ bietet Kontext zur laufenden Arbeit der „Gegenforensik“ von Forensic Architecture.

Seit 2010 hat Forensic Architecture mehr als 80 Ermittlungen auf der ganzen Welt durchgeführt und die Ergebnisse vor nationalen und internationalen Gerichtshöfen und Wahrheitskommissionen sowie in Kunst- und Kultureinrichtungen vorgestellt.

Indem sie die Richtung des „forensischen Blicks“ umkehrt, versucht die Agentur ein Handlungsfeld abzustecken, in dem Einzelpersonen und unabhängige Organisationen Machtmissbrauch durch Staaten und Unternehmen aufdecken und konfrontieren können. Dabei untersucht FA auch stets kritisch die juristischen, technologischen, medialen und politischen Kulturen, in denen diese Arbeit eingebettet ist.

Forensis, der Name der Berliner Schwesteragentur von FA, ist lateinisch für „zum Forum gehörend“ und die Wurzel des Begriffs Forensik. Das römische Forum war ein mehrdimensionaler Raum der Verhandlung und Wahrheitsfindung, in dem Menschen und Objekte gemeinsam an Politik, Recht und Wirtschaft teilnahmen.

Mit dem Aufkommen der Moderne verlagerte sich die Bedeutung der Forensik zunehmend auf den Bereich des Rechts und insbesondere auf die Anwendung der Medizin in der Justiz. Heute ist die Forensik von zentraler Bedeutung für die Art und Weise, in der Staaten ihre Bürger*innen überwachen und regieren. Durch die Rückbesinnung auf das umfassendere Konzept der „forensis“ versucht Forensic Architecture, das Potential der Forensik als oppositionelle Praxis zu erschließen.

Hier stellen wir eine Auswahl von Fallbeispielen vor, die einige unserer zentralen Methoden veranschaulichen: Open-Source-Untersuchungen, 3D-Modellierung, Geolokalisierung und Synchronisierung, Fluiddynamik und Fernerkundung, kartografische Regression, Re-Enactment und situierte Zeug*innenaussagen.

 

DER MORD AN HALIT YOZGAT

Anfang der 2000er Jahre verbreitete die rechtsextreme Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) mit einer Serie von zehn rassistisch motivierten Morden Angst und Schrecken in den migrantischen Gemeinschaften Deutschlands. Nach jahrelangem antirassistischen Einsatz auf Regionalebene gründeten verschiedene Initiativen, Angehörige der Opfer und Mitglieder der Communitys im Jahr 2015 das Tribunal NSU-Komplex auflösen. Sie waren der Auffassung, dass ein bloßes rechtliches Verfahren die Mitverantwortung des Staates und der Gesellschaft an diesen Morden nur eingeschränkt erfassen könne.

NSU-Komplex auflösen bat Forensic Architecture, einen der Morde zu untersuchen. Bei diesem handelte es sich insofern um einen Sonderfall, als dass sich der Verfassungsschützer Andreas Temme während des Geschehens am Tatort aufhielt. Am 6. April 2006 wurde der 21-jährige Halit Yozgat im Kasseler Internetcafé seiner Familie ermordet. Auf den 77 Quadratmetern des Lokals hielten sich zu diesem Zeitpunkt die Mörder*innen, der genannte Agent des Verfassungsschutzes und die Migrant*innen auf, denen der Anschlag galt. Eine gemeinsam mit dem HKW umgesetzte Nachstellung des Mordes in einem maßstabsgetreuen Modell des Internetcafés ergab, dass es sich bei der Behauptung des Verfassungsschützers, er habe den Mord weder gesehen noch gehört, um eine Falschaussage gehandelt haben musste.

Die Ermittlungsergebnisse wurden zuerst vor dem Tribunal vorgestellt. Nachdem sie in der Kunstwelt mit zunehmender Aufmerksamkeit bedacht wurden und sich dabei auch Politiker*innen ein Bild von der Beweislage verschafften, wurden die Ergebnisse im Zuge zweier parlamentarischer Untersuchungen angefordert. Die Schwierigkeiten, die eine Grenzüberschreitung zwischen Disziplinen und Institutionen mit sich bringen, wurde deutlich, als Kunstkritiker*innen das Werk nicht als künstlerisches Werk, sondern als Beweismittel einstuften, während die Beschuldigten und von den gewonnenen Erkenntnissen in die Enge Getriebenen im selben Zug (erfolglos) versuchten, es als bloßes Kunstprojekt ohne juristische Beweiskraft zu verwerfen.

Im Auftrag von: NSU-Komplex auflösen Unravelling the NSU Complex, Initiative 6. April
Beteiligte: Forensic Architecture, NSU-Komplex auflösen, Initiative 6. April, HKW, documenta 14, The Institute of Contemporary Arts (ICA)
Forensic Architecture: Eyal Weizman (Hauptuntersuchungsleiter), Christina Varvia (Projektleiterin), Stefanos Levidis, Simone Rowat, Omar Ferwati, Nicholas Masterton, Yamen Albadin, Ortrun Bargholz, Eeva Sarlin, Bob Trafford, Franc Camps Febrer, Hana Rizvanolli, Sarah Nankivell, Chris Cobb Smith (Berater), Lawrence Abu Hamdan (Berater)
NSU-Komplex auflösen, Initiative 6. April: Ayşe Güleç, Natascha Sadr Haghighian, Fritz Laszlo Weber, Sebastian Bodirsky, Markus Mohr, Serdar Kazak
Weitere Mitwirkende: Cordula Hamschmidt/HKW, Khaled Abdulwahed, Cem Kayan, Vanina Vignal, Dr. Salvador Navarro-Martinez/Imperial College London, Grant Waters/Anderson Acoustics, Armament Research Services (ARES), Mihai Meirosu/Nvision Audio, Christopher Hupe/HKW, Frank Bubenwer, Gozen Atila, Mathias Zeiske/HKW, Norma Tiedemann, Başak Ertür
Vorstellung vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags (Juni 2017) und im Hessischen Landtag (25. August 2017)

 

„PUSHBACKS“ VON MIGRANT*INNEN AM FLUSS EVROS/MERIÇ: SITUIERTE ZEUGENBERICHTE

Seit Jahren berichten Migrant*innen und Flüchtende, die die griechisch-türkische „Land“-Grenze über den Fluss Evros beziehungsweise Meriç nach Europa überqueren wollten, dass sie von unbekannten maskierten Männern festgenommen, verprügelt und im Verborgenen auf türkisches Gebiet zurückgedrängt wurden, ohne ein Asylverfahren in Anspruch nehmen zu können. Zeug*innen erzählen, dass ihnen im Rahmen dieser „Pushbacks“ ihre Telefone, Ausweise und persönlichen Dinge entwendet wurden und häufig alles in den Fluss geworfen wurde. Dies legt den Verdacht nahe, dass mögliche Beweise für Menschenrechtsverletzungen gezielt beseitigt werden sollten.

Erschwert wird die Dokumentation der „Pushbacks“ auch durch die militärische Präsenz im Grenzgebiet, die dieses nahezu unzugänglich macht. In der „Pufferzone“ entlang der beiden Flussufer befinden sich oftmals die Gefangenenlager und Stützpunkte der Grenzwachen. Die Abriegelung sorgt dafür, dass Gefangene unsichtbar bleiben und keinen Zugang zu Rechtsmitteln erhalten. Die Unterverschlusshaltung und Beseitigung des Beweismaterials erlauben es griechischen und europäischen Behörden, Rechtsverletzungen systematisch in Abrede zu stellen und die Nachverfolgung entsprechender Berichte und Hinweise abzulehnen.

Um diese Schwierigkeit zu umgehen, wandte Forensic Architecture bei zwei mehrfach über den Evros zurückgedrängten Zeugen, Fady und Kuzey, das Verfahren des „situativen Zeugenberichts“ an. Bei einem situativen Zeugenbericht handelt es sich um eine Befragung, die auf 3D-Modelle der Schauplätze und Umgebungen zurückgreift, in welchem sich traumatische Ereignisse begeben haben, und welche als Hilfsmittel zur Rückerinnerung dient. Gemeinsam mit den Zeugen rekonstruierten wir den Ablauf der „Pushback“-Verfahren und konnten so seine systematische und großflächige Anwendung belegen und überdies bei der Identifikation der Örtlichkeiten und Beteiligten behilflich sein. Am 17. November 2020 wurden die Arbeitsergebnisse als Teil einer Klageschrift gegen die griechische Regierung eingereicht, welche dem UN-Menschenrechtsausschuss von HumanRights360 und dem Global Legal Action Network (GLAN) im Namen von Fady vorgelegt wurde.

Gemeinschaftsprojekt von Forensic Architecture, HumanRights360, HIAS Greece, Global Legal Action Network (GLAN), Greek Council for Refugees
Zeugen: Fady, Kuzey (Namen geändert)
Forensic Architecture: Eyal Weizman (Hauptuntersuchungsleiter), Christina Varvia (Verantwortliche Forscherin), Stefanos Levidis (Projektleiter), Dimitra Andritsou, Kishan San, Alican Aktürk, Nour Abuzaid, Zac Ioannidis, Phevos Kororos-Simeonidis, Lachlan Kermode, Hanieh Fatouraee, Mhamad Safa, Ifor Duncan, Samaneh Moafi, Sarah Nankivell, Robert Trafford
Weitere Mitwirkende: Iason Arvanitakis, Giorgos Valsamis, Sofia Georgovassili, Baris Karadeniz, Katerina Polychroni, Fares Nidal, Jalal Barekzai, Odinn Ingibergsson

 

DER MORD AN MUHAMMAD GULZAR

Am 4. März 2020 kursierten in den sozialen Medien Berichte über Schüsse sowie Tote und Verletzte unter Migrant*innen an der griechisch-türkischen „Land“-Grenze im abgezäunten Areal des Grenzpostens von Kastanies-Pazarkule. Die griechischen Behörden wies sieumgehend als frei erfunden zurück. Lediglich zwei Tage vor dem Ereignis war eine weitere Person, Muhammad al-Arab, im Grenzgebiet des Evros/Meriç-Deltas erschossen worden, nachdem die Türkei kurz zuvor ihre Grenze zu Griechenland geöffnet hatte, um politischen Druck auf die Europäische Union auszuüben.

Um unverzüglich auf diese Entwicklung zu reagieren wurde auf Veranlassung von Lighthouse Reports ein investigativer Redaktionsstab gegründet, an dem auch Forensic Architecture, Bellingcat, DER SPIEGEL sowie andere Journalist*innen und Forscher*innen mitwirkten. Gemeinsam untersuchten wir hunderte Videos und Bilder, sprachen mit Augenzeug*innen und sammelten Dokumente, um die Ereignisse dieses Tages zu rekonstruieren.

Wir ermittelten, dass an der Grenze mit scharfer Munition geschossen und sieben Menschen verletzt wurden, von denen zwei als Mohamad Hantou und Zeeshan Omar identifiziert werden konnten. Muhammad Gulzar, ein pakistanischer Staatsbürger, der zuvor in Griechenland gelebt hatte, wurde getötet. Unsere Analyse ergab, dass die Schüsse, die Gulzar töteten und die anderen sechs Personen verwundeten, mit hoher Wahrscheinlichkeit von der griechischen Seite der Grenze abgegeben wurden.

Die Beweismittel wurden in verschiedenen zivilgesellschaftlichen und politischen Foren geltend gemacht, so auch im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres der Europäischen Union. Überdies wurden wir für den Prozess, in dessen Rahmen Gulzars Tod untersucht wird, als Sachverständige vorgeladen. Die griechische Regierung leugnet den Einsatz von scharfer Munition an der Grenze weiterhin. Diese Position wurde auch von den griechischen Massenmedienübernommen, was sich in einer weitreichenden und feindseligen Verleugnung des Geschehenen niederschlug.

Gemeinschaftsprojekt von Forensic Architecture, Bellingcat, Lighthouse Reports, DER SPIEGEL
Ergänzende Berichterstattung von: Pointer (KRO-NCRV), Sky News
Forensic Architecture: Christina Varvia (Hauptuntersuchungsleiterin), Stefanos Levidis (Projektleiter), Dimitra Andritsou, Kishan San, Nour Abuzaid, Lola Conte, Sarah Nankivell, Robert Trafford, Eyal Weizman
Weitere Mitwirkende: Beck Audio Forensics, HumanRights360
Mit besonderem Dank an Stephanie Walcott/Department of Forensic Science an der Virginia Commonwealth University, Planet Labs

 

UMWELTRASSISMUS IN DEATH ALLEY, LOUISIANA

Wenn giftige Luft ein Denkmal der Sklaverei ist, wie können wir es abreißen?

Weltweit verkünden Denkmale von Sklavenhalter*innen ein provozierendes Bekenntnis zur weißen Vorherrschaft. Staatliche Behörden beugen sich endlich den langjährigen Forderungen von Aktivist*innen, sie niederzureißen. Doch während physische Denkmale zunehmend aus dem Blickfeld verschwinden, bleibt das strukturelle Erbe von Siedlerkolonialismus und Sklaverei intakt. Es durchdringt die Luft, die wir atmen.

Im US-Bundesstaat Louisiana, entlang eines 140 Kilometer langen Abschnitts des Mississippi-Flusses zwischen Baton Rouge und New Orleans, liegt eine Region, die einst „Plantagenland“ genannt wurde und heute als „Petrochemischer Korridor“ bekannt ist. Mehr als 200 Industrieanlagen, Tendenz steigend, befinden sich heute auf den brachliegenden Grundstücken der einst von Sklav*innen betriebenen Zuckerrohrplantagen. Im Schatten dieser Anlagen atmen die benachbarten Gemeinden – zumeist historische „Freetowns“, die von den Nachkommen der auf demselben Gelände versklavten Menschen bewohnt werden – heute eine der giftigsten Luft in den USA ein. Sie bezeichnen ihre Heimat als „Death Alley“.

Während die Industrie ihre Luft vergiftet, vernichtet sie gleichzeitig die Überreste ihrer Vorfahren. In dem zerstörten Mosaik aus Plantagen sind durch die rasante Entwicklung Hunderte von Schwarzen Friedhöfen von Entweihung bedroht.

Gemeinsam mit RISE St. James hat Forensic Architecture Strategien entwickelt, die tödlichen chemischen Stoffe sichtbar zu machen und die Spuren ausgelöschter Friedhöfe zu sichern, um den Spatenstichen der Industrie zuvorzukommen.

Gemeinschaftsprojekt von Forensic Architecture; RISE St James; Center for Constitutional Rights (CCR); Center for International Environmental Law (CIEL); The Descendants Project; Earthworks; Healthy Gulf; Imperial College London; Louisiana Bucket Brigade; The Human Rights Advocacy Project (HRAP), Loyola New Orleans College of Law; The Ethel and Herman L. Midlo Center for New Orleans Studies; Louisiana Museum of African American History; Whitney Plantation Museum
Forensic Architecture: Imani Jacqueline Brown (Projektkoordinatorin), Samaneh Moafi (Projektkoordinatorin Project Coordinator), Eyal Weizman, Sarah Nankivell, Dimitra Andritsou, Olukoye Akinkugbe, Omar Ferwati, Ariel Caine, Kishan San, Nicholas Masterton, Robert Trafford, Nour Abuzaid, Elizabeth Breiner, Sanjana Varghese, Ayana Enomoto-Hurst, Ana Lopez Sanchez-Vegazo, Caterina Selva, Jacob Bertilsson
Weitere Mitwirkende: Dr. Salvador Navarro-Martinez, Sam Blair
Mit besonderem Dank an: Sharon Lavigne, August „AJ“ Gomez, Milton Cayette, Chasity White, Jo Banner, Joy Banner, Jordan Brewington, Leon A. Waters, Don Hunter, D. Ryan Gray, Devin Ngetich, Mary N. Mitchell, Ludovico Palmeri, Milo Daemgen, Bao Ngo, Bryan C. Lee, Jr., Paavo Hanninen, Jeremy Blum, Julie Dermansky, Tammie Mills, Alahna Moore, Stephanie Cooper

TRIPLE-CHASER

Dass es sich bei Kunstinstitutionen nicht ausschließlich um alternative, neutrale Orte zur Präsentation von Beweismitteln handelt, sondern sie manchmal auch selbst in Menschenrechtsverletzungen verstrickt sind, zeigte sich am New Yorker Whitney Museum, als Aktivist*innen den stellvertretenden Vorsitzenden des Stiftungsrats Warren B. Kanders als Eigentümer der Safariland Group entlarvten – einer der weltweit größten Hersteller von Tränengas. Kanders‘ Verwicklung in dieses Geschäft wurde zuerst durch die Internetplattform Hyperallergic öffentlich bekannt gemacht und führte wenig später zu neunwöchigen Protestaktionen im Museum, die von der Bewegung Decolonize This Place organisiert wurden. Derweil rief die Gruppe Artists and the Greater Economy (W.A.G.E.) Künstler*innen dazu auf, Kanders Rücktritt zu fordern. Einer Ausstellungseinladung zur Whitney Biennal folgend, widmete sich Forensic Architecture einer Recherche zum Einsatz des „Triple-Chaser“, einer Tränengasgranate der Firma Safariland. In unserer Entgegnung setzten wir „Computer Vision“-Klassifikatoren ein, um das Internet zu durchsuchen und die weltweite Anwendung von Triple-Chaser zu identifizieren und kartografieren.

Auf diese Art deckten wir seinen Einsatz bei der Bekämpfung zivilgesellschaftlicher und sozialer Bewegungen und Proteste gegen siedler*innenkoloniale, liberal-demokratische und autoritäre Staaten auf – von Palästina angefangen über die mexikanisch-US-amerikanische Grenzregion bis hin zu US-amerikanischen Großstädten. Ebenso konnten wir beweisen, dass über den US-amerikanischen Munitionshersteller Sierra Bullets eine Verbindung zwischen Kanders und der Gewaltausübung gegenüber Palästinenser*innen durch israelische Scharfschütz*innen im besetzten Gaza bestand.

Der Film entstand in Zusammenarbeit mit Laura Poitras (Praxis Films) und trug dazu bei, dass Kanders aus dem Stiftungsrat austrat und aus der Tränengasindustrie ausstieg. So bestätigte sich, dass ein öffentliches Forum bisweilen selbst Veränderungen anstoßen kann, die durch eine in ihm abgehaltene Präsentation in die Wege geleitet wurden, durch die der White Cube oder die Blackbox des Museums nicht allein als kritischer Raum erschlossen, sondern selbst zum handelnden Akteur wird.

Gemeinschaftsprojekt von Forensic Architecture, Praxis Films, European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), Omega Research Foundation, Decolonize This Place, B’Tselem
Forensic Architecture: Eyal Weizman (Hauptuntersuchungsleiter), Robert Trafford (Projektleiter), Lachlan Kermode, Alican Aktürk, Shourideh C. Molavi, Ronni Winkler, Nicholas Zembashi, Robert Krawczyk, Will Scarfone, Sarah Nankivell, Christina Varvia
Praxis Films: Laura Poitras, Yoni Golijov, Jonah Greenstein, Margot Williams, John Thomason
Erzähler Narration: David Byrne
Mit herzlichem Dank an alle Kolleg*innen und Verbündete, die uns unter bisweilen schwierigen Umständen bei der Recherche und Feldforschung für dieses Projekt unterstützt haben: Ain Media Gaza, International Solidarity Movement, Element Al, Emily Jacir, Dr. Anna Feigenbaum, Neil Cormey, Adam Harvey, Sarit Michaeli Oren Ziv, Zuhal Altan, Micol (@_EN_Mexico), Phoebe Cottam, Giedre Steikunate
Dieser Film wurde im September 2019 im Palestine Red Crescent Theatre in Gaza öffentlich gezeigt.

 

OFFENE VERIFIZIERUNG

Für Investigative Commons ist die offene Verifizierung die entscheidende Methode. Sie erfordert die Bildung einer praxisbezogenen Gemeinschaft, innerhalb derer der Ermittlungsprozess zu einem sozialen wird. Anstatt auf die Blackboxes der behördlichen

Organe beschränkt zu sein, fußt diese Form der Beweisführung auf offenen Prozessen und neuen Koordinationsformen zwischen verschiedenen Stellen und Institutionen unterschiedlicher Art: Menschen, denen Gewalt angetan wird und die für Gerechtigkeit kämpfen, Aktivist*innen, die sie in diesem Kampf unterstützen, ein weit verzweigtes Netz von Open-Source-Ermittler*innen, Wissenschaftler*innen sowie anderen Fachleute. Auch die Präsentation von Beweisen wird in einer einzigartigen Zusammensetzung zwischen dem wissenschaftlichen Labor, dem Künstleratelier, Aktivist*innenorganisationen, sozialen Bewegungen, nationalen und internationalen juristischen Foren, den Medien und kulturellen Institutionen vergemeinschaftet.

Diese Allianzen schaffen eine Art sozialer Vertrag, in dem sich die Vektoren der Produktion und Dissemination von Fakten wie in einer Assemblage miteinander verbinden. Die Untersuchung jedes einzelnen Falles erstreckt sich daher neben der Rekonstruktion des Geschehenen auch auf die sozialen Verhältnisse, die das Geschehene erst ermöglicht haben.

Faktenproduktion wird dabei zu einem distribuierten Gemeingut (Commons), einer epistemischen Praxis von Gemeinschaft. Diese Commons dürfen nicht eingehegt werden, sondern müssen an ihren Rändern immer neuen Informationen und Sichtweisen, Widersprüchen und Deutungen gegenüber offen bleiben.

 

DAS GEMEINGUT DER DATEN

Die beschleunigte Verbreitung digital vernetzter Medien hat neue Möglichkeiten partizipatorischer Untersuchungs- und Prüfungsprozesse von Sachverhalten hervorgebracht, die sogenannten open source investigations (OSI). Was als kleiner Teilbereich spezialisierter Internetrecherche seinen Anfang nahm, umfasst mittlerweile auch neuartige Techniken der Informationsbeschaffung und Recherche, die auf die rasch anschwellende „Datenflut“ reagieren und dadurch investigative Praktiken und den Bereich der Wissensproduktion revolutionieren. Open-Source-Ermittlungen stellen inzwischen ein interdisziplinäres Tätigkeitsfeld dar, das sich auf Menschenrechte, den Journalismus, das Rechtswesen, den Film, die Medien und die Kunst erstreckt. So bringen sie neue Verfahren der Berichterstattung und Konfliktbeobachtung hervor, die auf strukturell wie geografisch dezentraler Kooperation beruhen und neue, substanzielle Formen der Beweisführung in nationalen und internationalen Gerichten Einzug halten lassen.

Die Ermittler*innen untersuchen öffentlich verfügbares Foto-, Video- und Tonmaterial, das von Zeug*innen oder Täter*innen online gestellt wurde. Für ihre Recherche greifen sie auf frei zugängliche und kostenpflichtige Satellitenbilder, wissenschaftliche Datenbanken und öffentliche Archive sowie Auszüge aus Zeugenaussagen, die willentlich oder unbeabsichtigt Hinweise zu einem speziellen Tathergang liefern, zurück. Ihr Vorgehen folgt dem poetologischen Diktum von Stephane Mallarmé: „Die Dinge gibt es immer schon und sie müssen nicht von uns erschaffen werden; vielmehr ist es an uns, die Beziehungen zwischen ihnen zu erkennen.“ Doch die Quellen und Datensätze solcher Untersuchungen werden oft zeitgleich von Falschmeldungen, Verschwörungstheorien, Lügen und Verleugnungen unterwandert, die dazu noch in der Regel schneller Verbreitung finden. Medienplattformen stehen damit zunehmend an der Frontlinie im Kampf um die Aufdeckung und Verbreitung von Wahrheit sowie die Entlarvung von Propagandakampagnen.

 

SENSORISCHE UMWELTFORSCHUNG

Gewaltakte erstrecken sich über unterschiedliche räumliche Dimensionen und Zeitabschnitte. Diese reichen von der plötzlichen Eruption kinetischer Kräfte in unerwarteten Ereignissen bis hin zu langen, kaum mehr wahrnehmbaren Transformationsprozessen. Die gewaltsame Zerstörung von Umwelt geht oftmals schleichend vonstatten und ist indirekt und schwierig zu isolieren. Deshalb aber ist sie ebenfalls eng mit kolonialen und militärischen Formen der Herrschaft verflochten. Die Umwelt ist kein neutraler Hintergrund und ihre Zerstörung nicht immer bloß ein Kollateralschaden. Sie kann selbst zum Medium und Mittel der Ausübung von Rassismus, Landraub und Gewalt werden.

Die Untersuchung der Gewalt gegen die Umwelt erfordert ein besonderes Herangehen an die Analyse kinetischer Kollisionen. Denn obwohl „jeder Kontakt eine Spur hinterlässt“, sind diese Spuren in der Umwelt mitunter schwer zu finden und lassen sich oft nicht linear oder monokausal auf eine Ursache zurückzuführen.

Auf diesem Gebiet wächst der Gedanke der Commons über das Nur-Menschliche hinaus und erstreckt sich auf ökologische Zusammenhänge sowie auf Formen der Integration und Artikulation mannigfaltiger Entitäten, denen bislang keine eigene Handlungsmacht zugestanden wurde. Die menschliche Zeug*innenschaft und die fotografische Dokumentation müssen deshalb in biologischer, mineralogischer oder mathematischer und computerbasierter Hinsicht durch eine erweiterte „Sensorik“ ergänzt werden. Die mannigfaltigen Sensoren von Ökosystemen registrieren und bewahren die Spuren von gegen sie gerichteten Gewaltformen ebenso wie den Widerstand dagegen.

(Siehe Matthew Fuller und Eyal Weizman, Investigative Aesthetics, Verso, London 2021.)

 

INVESTIGATIVE ÄSTHETIK

Die Investigative Commons werden durch ästhetische Praktiken geformt. Auch wenn die an Sachlichkeit orientierten Verfahren der Wahrheits- und Beweisfindung auf den ersten Blick mit ästhetischen Empfindsamkeiten und imaginativen Verfahren unvereinbar zu sein scheinen, ist investigative Praxis doch auf vielfältige Weise mit Ästhetik verwoben.

Wir verstehen Ästhetisierung als das Schärfen der Sinne für kaum wahrnehmbare Details und Spuren, die erst noch zum Sprechen gebracht werden müssen; von flüchtigen Momenten, die in Pixeln und Filmkörnern aufgezeichnet und rekonstruiert werden können.

Zugleich beschreibt der Begriff der Ästhetisierung die Fähigkeit, eine große Anzahl unterschiedlicher Sinneseindrücke zu einem Gesamtbild und Muster zu verweben. Wenn ein dezentrales Netzwerk als kollektives Studio das Labor als Ort der Faktenfindung ergänzt, wird Ästhetik selbst zu einem Medium, in dem sich verschiedenste Zeichen zu Tatsachen mit Überzeugungskraft fügen. Im Forum ist die Ästhetik das Mittel, um die Präsentation von  Beweisen zu vergemeinschaften und alternative Öffentlichkeiten und Plattformen zu schaffen, auf denen die Artikulationen politischer Ansprüche ausgeführt, gesehen und gehört werden können.

Investigative Ästhetik ist in der Erfahrung verankert. Die Perspektiven, die sie verwebt, sind partiell, in ihren jeweiligen Kontexten eingebettet, aktivistisch oder auch militant. Die eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu erweitern bedeutet, sich entgegen der Betäubungseffekte politischer An-Ästhesie unterrepräsentierten Erfahrungen von Leid zu öffnen.

(Siehe Matthew Fuller und Eyal Weizman, Investigative Aesthetics, Verso, 2021)