Regina de Miguel

Intoxicated waters, never-seen-before comets and a meeting of suicides, 2021
HD-Video, 42 min
Tonspur Lucrecia Dalt
Courtesy die Künstlerin

Chroniken eines Mediums

Regina de Miguel hat eine interdisziplinäre kinematografische und künstlerische Praxis entwickelt, aus der hybride Filme und Projekte wie Installationen, Zeichnungen, Skulpturen und Fotografien entstehen. Sie schafft komplexe Erzählungen, die aus ihren Recherchen in wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen, Archiven und bei ihren Expeditionen zu den abgelegensten Orten des anthropozänen Planeten wie Wüsten, fast unbewohnte Gebiete oder Orte des Extraktivismus wie Minen entstehen.

Sie verbindet in ihren Arbeiten Texte, das Schreiben einer Geschichte, und das Performative, das sich durch Klang, Stimme, Musik und Gesang manifestiert, um Bezüge zu thematisieren, die sie in der Wissenschaftsphilosophie, in der Reflexion über Biopolitik, in Film und Literatur findet. Ausgehend vom Ökofeminismus und der Sorge um aktuelle geopolitische und technologische Geschehnisse bedient sich de Miguel der Mittel der spekulativen Fiktion, des Horrorgenres und der Science-Fiction, die neue theoretische Perspektiven und Erfahrungen öffnen.

Bereits in ihren frühen Arbeiten Nouvelle Science Vague Fiction (2011) und Voces de mundos que se desvanecen (Stimmen aus verschwindenden Welten) (2013) legt die Künstlerin den Grundstein für ihre künstlerische Praxis. Sie hinterfragt die vermeintliche Objektivität der wissenschaftlichen Methoden, des Diskurses und unterzieht die für Laien schwer verständliche wissenschaftliche Sprache einer kritischen Analyse. De Miguel arbeitet mit wissenschaftlichen und kulturellen Objekten, um das Fiktive in ihnen zu enthüllen. Auch andere Elemente, die in ihrer Karriere immer wieder auftauchen, finden sich in ihren frühen Werken wie die Stimmen ihrer Figuren, die alle weiblich sind, ob Mensch, Roboter oder von zweideutiger Natur. Die Frauen in de Miguels Werken sind Archetypen, die sich als mythische und uralte Figuren durch alle Zeiten der Geschichte ziehen. Weitere Elemente ihrer Erzählungen sind die Präzision der Sprache bei der Beschreibung von allem, was existiert, die Namen, die eine Geschichte und bestimmte Konnotationen in sich tragen, die Verallgemeinerungen vermeiden.

In Intoxicated waters, never-seen-before comets and a meeting of suicides (Vergiftete Gewässer, noch nie gesehene Kometen und eine Ansammlung von Selbstmörder:innen), so beschreibt es die Künstlerin, „verbringt die Protagonistin ihre Tage damit, auf einen neuen Auftrag zu warten. Dieser wird ihr jedoch nicht direkt zugewiesen, sondern durch den Dialog mit verschiedenen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen, die den Planeten bevölkern, auf dem sie zufällig wohnt. Sie freundet sich mit einer alten Frau an, mit der sie entdeckt, dass der Sumpf ein Ort ist, der Stimmen aus vergangenen Zeiten zurückbringt. So kommt sie in Kontakt mit einer Gruppe von Frauen, die sich umgebracht haben: Anne Sexton, Sarah Kane, Dalida, Antonieta Rivas Mercado, Alejandra Pizarnik, Sylvia Plath, Jean Seberg, Ana Cristina César und Chantal Akerman, Die Unbekannte aus der Seine. (Sie sind die geliebten toten Heldinnen der Künstlerin). Ein Chorgesang macht deutlich, dass diese Selbsttötungen ein Versagen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und eine Folge von fehlendem Zuhören und Mangel an gegenseitiger Aufmerksamkeit sind. Im Laufe des Filmes kommuniziert die Protagonistin auch mit einem stillgelegten Radioteleskop, von dem sie erfährt, wie die grundlegenden Elemente für die Entstehung des Lebens auf dem Kometen 67P gefunden wurden.  Die Sonde beschreibt, wie sie dieses kosmische Urgestein bewohnte und durch Einschläge ein selbstmörderisches Manöver durchführte, welches sie live übertrug. Das Radioteleskop formuliert sein Bedauern, Zeuge wissenschaftlicher Ereignisse gewesen zu sein, die die Entstehung und den Ursprung des Lebens erklären, aber nicht verstanden zu haben, wie der Moment der Vernichtung auf den Planeten Erde kam. Am Ende des Filmes fängt die Protagonistin an während einer Nachtwanderung Verbindungen zu lösen. Belebte und unbelebte Wesen beginnen ein Ganzes zu bilden, einen Chor, der die Gewissheit ihrer nächsten Mission bestimmt.“

De Miguels Film beinhaltet Diskurse und Spekulationen von Donna Haraway, Rosi Braidotti, Isabelle Stengers, Lynn Margullis oder Eduardo Viveiros de Castro. Ihre Stimmen verdichten sich in einem Lied, mit dem der Film endet. Dieses entstand in Zusammenarbeit mit der Sängerin und Komponistin Lucrecia Dalt (*1980, Pereira, CO), die de Miguels Filme oft musikalisch begleitet und Atmosphären schafft, die traumhafte Klanglandschaften erzeugen:

„Es wächst eine Rose, die eine Schnecke und ein Quarz ist. Eine Flasche, die ein Fluss und eine Flamme ist. Ein Parfüm, das aus einem Fingernagel und einem Kupferdraht besteht. Ein Knochen, der ein Tontopf ist, der Käse und Wein ist. Ein Brot, das eine Brücke ist und ein später Nachmittag. Ein Haus, das ein Zug und ein Grab ist. Ein Krieg, der nur Haut und Fisch ist. Ein Löwe, der eine Tür und ein Mantel ist. Eine Müllhalde, die ein Schwimmbad und eine Palme ist…“

Science-Fiction als Erzählform bildet die Grundlage für die Vorstellungswelt von Regina de Miguels trostlosen, seltsamen Landschaften, aber es handelt sich nicht um eine dystopische, nihilistische oder reaktionäre Fiktion. Konfrontiert mit „einem Planeten, der einen Abschiedsbrief hinterlässt“, empfängt die Protagonistin Botschaften aus parallelen Universen, aus anderen Zeiten und Orten: „Je entfernter, desto dringlicher die Frage“.

In De Miguels Geschichte sind Ungewissheit, Verletzlichkeit, Zerbrechlichkeit, Zuhören und Empathie Formen des Widerstands und die Kunst ist das Medium dafür. Das Beunruhigendste an dieser Chronik, diesem ausführlichen Bericht, ist vielleicht, dass er keinen konkreten Adressat hat, sondern uns alle meint. Das Ende bleibt offen.

 

Regina de Miguel (*1977, Málaga, ES) ist bekannt für ihre filmische und interdisziplinäre künstlerische Praxis, die zu einer Verbindung von Forschung und der Entwicklung von Prozessen führt, aus der Produktion von Wissen, Filmen und hybriden Projekten entstehen. Einer der wichtigsten diskursiven Stränge in de Miguels Arbeit ist die kritische Analyse der vermeintlichen Objektivität wissenschaftlicher Repräsentationsmittel und der Produktionsbedingungen von wissenschaftlichem Wissen. Sie präsentierte ihre Arbeiten in Einzelausstellungen in Institutionen wie The Green Parrot, Barcelona (ES); C3A, Córdoba (ES); Arte Santa Monica, Barcelona (ES), Maisterravalbuena, Madrid (ES) und Kunsthalle Sao Paulo, Gent (BE). Ihre Filme wurden in zahlreichen Museen und Institutionen auf der ganzen Welt gezeigt und sie hat kürzlich einen Beitrag zu dem von Hans Ulrich Obrist und Kostas Stasinopoulos herausgegebenen Band 140 Artists‘ Ideas for Planet Earth (2021) geleistet. Ihre Arbeiten befinden sich in mehreren öffentlichen und privaten Sammlungen, darunter das Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, Madrid (ES) und das Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid (ES).