Abgüsse prähistorischer Höhlengravuren und -hochreliefs aus der Sammlung des Prähistorischen Museums und Instituts „Paolo Graziosi“, Florenz

Abguss aus der „Grotta del Romito“ (Höhle des Einsiedlers in Kalabrien, Italien)
150 x 100 cm

Abguss aus der „Grotte du Roc“ (Höhle von Roc-de-Sers in Charente, Frankreich)
165 x 65 cm

Abguss aus der „Grotta dell’Addaura” (Addaura-Höhle auf Sizilien, Italien)
70 x 100 cm

Abgüsse eigens angefertigt für die Ausstellung Das Anwesende des Abwesenden im Frankfurter Kunstverein; Ausführung und manuelle Präparation: Prähistorisches Museum und Institut „Paolo Graziosi” in Florenz

Courtesy Prähistorisches Museum und Institut „Paolo Graziosi” in Florenz

In der Ausstellung Das Anwesende des Abwesenden werden einige Repliken paläolithischer Kunstwerke gezeigt, die vom Prähistorischen Museum und Institut „Paolo Graziosi“ in Florenz zur Verfügung gestellt wurden. Ihre Anwesenheit möchte eine intellektuelle Verbindung zwischen der paläolithischen Kunst zum Anbeginn aller Ästhetik und der modernen sowie der zeitgenössischen Kunst herstellen.

Die prähistorische Kunst, verstanden als visuelle Sprache durch bildliche Darstellungen, ist eine kognitive Errungenschaft des Homo sapiens, die 40.000 bis 45.000 Jahre zurückreicht. Ihre Existenz ist dort dokumentiert, wo sich diese Spezies, deren heutige Vertreter:innen wir sind, durch lange Wanderungen von Afrika nach Europa und in den äußersten Osten Asiens rasch ausbreitete.

Der Neandertaler (Homo neanderthalensis) hatte bereits vor dem Homo sapiens kleine Blöcke und Knochen graviert, und zwar nur mit linearen Zeichen in mehr oder weniger komplexer Grafik, dabei jedoch nie erkennbare Figuren erschaffen. Das Verwenden von Ocker als Färbemittel und die Herstellung von einfachem Schmuck (Anhänger, Halsketten…) zeigen, dass der Neandertaler zwar ein ästhetisches Verständnis besaß, aber nie künstlerische Zeugnisse im engeren Sinne hinterließ.

Das reichhaltigste und bekannteste Repertoire des Homo sapiens ist das europäische, das in hunderten von Höhlen und Felsunterständen erhalten ist und sowohl in Form von Felsbildern (Parietalkunst) als auch auf transportablen Gegenständen (bewegliche Kunst) hergestellt wurde.

Die Jäger- und Sammlervölker des Paläolithikums kannten keine Schrift, sie verwendeten stattdessen nonverbale Sprachen: Gebärden, Musik, Tanz. Figürliche Ausdrucksformen entstanden zur gleichen Zeit wie die ersten Musikinstrumente (Flöten aus den langen Hohlknochen von Schwänen und Adlern), bestimmte Bewegungen und Körperhaltungen (belegt durch fossile Fußabdrücke, die im feuchten Boden von Höhlen überdauert haben) sowie die systematische Herstellung von Körper- und Kleidungsschmuck als Zeichen der individuellen Identität. Damit ließen sich auch einzelne Verstorbene in den Gräben kennzeichnen.

Dieses künstlerische Erbe sollte als Kommunikationssystem zur Weitergabe von Werten und Ideologien verstanden werden, in denen die Gemeinschaft sich wiedererkannte. Die frühe Kunst befasst sich mit einigen zentralen Themen: der weiblichen Figur, insbesondere in ihrer mütterlichen Fähigkeit, Leben zu schenken (als sogenannte Venus), der Tierwelt und der Jagd (das wichtigste Mittel für den Nahrungserwerb) sowie mit Theriomorphen: menschlichen Figuren mit Masken, die mit der symbolischen Sphäre des Sakralen verbunden sind. Häufige Darstellungen sind auch Handabdrücke, freistehende Vulvazeichnungen sowie geometrische, lineare und punktuelle Zeichen. Ihre Bedeutung bleibt rätselhaft. Die gleichen Themen werden in der beweglichen Kunst auf Steinen und Knochenfragmenten, mit kleinen Statuetten, bei Verzierungen von Waffen oder symbolischen Artefakten behandelt.

Die Höhle ist der bevorzugte Ort für Malereien, Gravuren, Flachreliefs und Tonmodellierungen, sei es in Wohnräumen oder in „Heiligtümern“ für zeremoniell-sakrale Zwecke. Die Ausdrucksformen der paläolithischen Kunst sind vielfältig und verschiedene Stile sind bereits in den ersten figurativen Manifestationen des Aurignaciens, der ersten Kultur des Homo sapiens, präsent. Ein Naturalismus, der auf anatomische Details, natürliche Proportionen und die Bewegung der Motive achtet, wird von schematischen, fast abstrakten Bildern begleitet, in denen das Thema stets erkennbar bleibt. Im Laufe der Zeit, gegen Ende des Paläolithikums, gewinnen geometrische und lineare Zeichen an Bedeutung und setzen sich zum Nachteil naturalistischer Bilder durch.

Ausgehend von den ältesten künstlerischen Erfahrungen hat der Homo sapiens figurative Mittel verwendet, die wir auch in der klassischen, der modernen und der zeitgenössischen Kunst wiederfinden. Eines davon ist die Anamorphose. Sie besteht darin, ein Bild mit bestimmten Formen und Dimensionen auf einer Wand (Ausführungsebene) zu erschaffen, wohl wissend, dass die Betrachter:innen es etwas anders wahrnehmen würden (Betrachtungsebene). Die Anamorphose ist in der modernen Kunst weit verbreitet, sie setzt eine detaillierte Planung voraus. Ein weiteres konzeptionelles Mittel ist die Synekdoche, die darin besteht, einen Teil für etwas Ganzes darzustellen: etwa das Vulvazeichen als Motiv für Weiblichkeit, ein Horn oder ein anderes anatomisches Detail für ein Tier.

In einigen Bildern finden sich auch Hinweise auf eine sehr einfache Perspektive.
In der Malerei und in der Kleinbildhauerei zeigen die konzeptionelle Zerlegung eines Themas und dessen Neuzusammensetzung eine enge Verbindung zwischen paläolithischen und modernen sowie zeitgenössischen künstlerischen Denkprozessen. Der Homo sapiens von vor 40.000 bis 45.000 Jahren erlebte also einen kognitiven Urknall, der sich über die Jahrtausende bis in die Gegenwart erhalten und weiterentwickelt hat. Darüber hinaus zeigen paläoneurologische Studien, dass die Regionen des heutigen Gehirns eines Menschen denen des paläolithischen Gehirns ähneln oder sogar mit diesen identisch sind.

 

„Grotta del Romito“ (Höhle des Einsiedlers)

Die „Grotta del Romito” (Höhle des Einsiedlers) in Kalabrien, Süditalien, zählt zu den bedeutendsten jungpaläolithischen Fundstätten im Mittelmeerraum. Die Ausgrabungen dort begannen in den 1960er Jahren unter Paolo Graziosi (Universität Florenz). Seit dem Jahr 2000 stehen sie im Zentrum eines Forschungsprojekts, das Fabio Martini, Direktor des Prähistorischen Museums und Instituts „Paolo Graziosi“ in Florenz, koordiniert.

Hier ist der Abguss einer Gravur aus der Einsiedlerhöhle zu sehen, die einen imposanten, heute ausgestorbenen Auerochsen (Bos primigenius) zeigt. Sein Profil wurde kunstvoll in einen großen Kalksteinblock in der Mitte eines mächtigen Felsens vor der Höhle eingraviert.

Die majestätische Figur, die sich auf der Oberfläche des Felsens abzeichnet, entstand vor etwa 12.000 bis 14.000 Jahren. Sie wurde mit einem hohen Grad an Naturalismus gefertigt, der die anatomischen Proportionen respektiert und auf anatomische Details achtet (man beachte das Fell an seinem Schweif, die Darstellung seines Geschlechts, das Maul). Die Betrachter:innen erkennen sofort das Subjekt, das sie vor sich haben; reglos, gebannt in einen Moment außerhalb der Zeit.

Die Gravur erzählt nicht, sie beschreibt nicht die Welt, sie erinnert nicht an Ereignisse: Das sich nicht bewegende Tier wird zu einem Symbol. Mit welcher Bedeutung? Die prähistorische Archäologie, die keine schriftlichen Quellen kennt, gibt keine Antworten auf diese Fragen.
Wir können nicht ausschließen, dass der Auerochse eine totemistische Bedeutung hatte, denn seine Merkmale könnten die Werte der dort lebenden Gruppe verkörpert haben. Es ist vielleicht kein Zufall, dass einige bei Ausgrabungen gefundenen Artefakte aus Fragmenten von Auerochsenknochen bestehen; womöglich wurden Hörner von Auerochsen als symbolische Opfergaben bei einer Bestattung mitgegeben.

Die Gravur mit ihren tiefen Linien wurde mit einem Werkzeug aus Feuerstein und mit robustem, spitzem Ende ausgeführt, dem „Stichel“. Solche Werkzeuge werden noch heute von Goldschmied:innen und Graveur:innen verwendet.

Das Bildnis ist selbst aus der Ferne gut sichtbar: Die Größe der Figur und ihre Sichtbarkeit haben der Abbildung einen äußerst wichtigen Stellenwert verliehen.

Die realistische Darstellungsform erinnert an den Stil jener Zeit, von dem in Mittel- und Westeuropa, insbesondere in Frankreich, Zeugnisse existieren. Dies bedeutet, dass die künstlerischen Tendenzen jener Epoche auf dem gesamten Kontinent verbreitet waren, sogar in den südlichsten Gebieten.

Dieser Abguss wurde vom Prähistorischen Museum und Institut „Paolo Graziosi“ in Florenz zur Verfügung gestellt.

 

„Grotte du Roc“ (Höhle von Roc-de-Sers)

Roc-de-Sers in der Charente im Südwesten Frankreichs gehört zu den bedeutendsten Fundstätten prähistorischer Kunst: Die Flachreliefs in den dortigen Höhlen belegen ein großes handwerkliches Vermögen während der letzten Phase des Paläolithikums.

Das hier gezeigte Fries – es handelt sich um eine Replik – gehört zu den zwischen 1927 und 1951 entdeckten Fragmenten auf Felswänden, in die Tierfiguren sowohl einzeln, als auch in Gruppen geschnitzt wurden: Pferde, Steinböcke und, wie im Fall dieses Reliefs, ein Pferd, das einem Wildschwein folgt (nach Ansicht einiger Forscher:innen handelt es sich dabei eher um ein Bison oder ein Mischwesen).

Das Fries stammt aus der Kulturstufe des Solutréen, die vor etwa 17.000 und 19.000 Jahren in Mitteleuropa verbreitet war. Sie belegt ein hochentwickeltes technisches Wissen in der Bearbeitung von Stein – sowohl, was die Herstellung von Werkzeugen aus Feuerstein betrifft, als auch das Herausarbeiten von Skulpturen aus Felswänden mit rudimentären Meißeln.

Das Fries von Roc-de-Sers entstand im gleichen Zeitraum wie die berühmten Wandmalereien der Höhle von Lascaux, wo die künstlerische Form der Malerei bevorzugte wurde. In Lascaux entstanden durch die Anwendung auch heute noch aktueller Techniken wie der Anamorphose aufwendige Tierfiguren mit polychromen Ergebnissen von großer Wirkung.

Das Solutréen war eine Epoche mit einer künstlerischen Produktion von großem ästhetischen Wert, vor allem dank des gekonnten Realismus und Naturalismus, mit dem die Volumen der Körper gemalt, graviert oder, wie in Roc-de-Sers, gemeißelt wurden.

In den Höhlen besaß die künstlerische Praxis eine doppelte Bedeutung. In einigen Fällen begleitete sie das alltägliche Leben: Tierische, menschliche oder abstrakte Figuren waren gemeinsam mit ganz praktischen Aktivitäten präsent. Andere Höhlen – und ihre Abbildungen – dienten hingegen als „Heiligtümer“: als Orte, die für zeremonielle, sakrale und symbolische Handlungen genutzt wurden. Roc-de-Sers ist ein Ort, der die Integration von Heiligem und Profanem, von Alltag und metahistorischem symbolischem Raum dokumentiert.

Die originalen Friesfragmente werden im Nationalen Archäologiemuseum in Saint-Germain-en-Laye aufbewahrt. Diese Nachbildung hat das Prähistorische Museum und Institut „Paolo Graziosi“ in Florenz eigens für diese Ausstellung angefertigt und zur Verfügung gestellt.

 

„Grotta dell’Addaura” (Addaura-Höhle)

Bei den Addaura-Höhlen handelt es sich um mehrere, kleinere Höhlen in der Nähe von Palermo (Sizilien). Zum Ende der Altsteinzeit, vor etwa 10.000 Jahren, waren sie bewohnt. In die Wände wurden lineare Zeichen und Figuren geritzt. In einer Höhle fanden Forscher:innen eine komplexe Szene, die in der Ausstellung anhand einer Replik präsentiert wird.

Die Szene besteht aus einer Reihe menschlicher Figuren mit unterschiedlichem Verhalten: Die Hauptgruppe steht aufrecht und umringt zwei am Boden liegende Individuen. Einige Personen der Gruppe haben dichtes Haar, andere tragen eine Maske mit einem Vogelschnabel; alle scheinen zu tanzen, was sich an der Stellung der Beine und Arme erkennen lässt. Die beiden Liegenden hingegen nehmen eine unnatürliche Haltung ein, mit stark angewinkelten Beinen. Die Knöchel sind mit einer Art Seil an den Hals gebunden, was durch eine klare, tief eingeschnittene Linie angedeutet wird. Die angewinkelten Arme deuten darauf hin, dass diese Menschen versuchen, sich am Seil selbst festzuhalten.

Wissenschaftler:innen teilen die Interpretation, dass hier eine Hinrichtung durch Strangulation dargestellt wird, wobei der erigierte Phallus der beiden Figuren eine Folge des Erstickens wäre. Andere Figuren, die in dieser Replik nicht enthalten sind, entfernen sich von der Gruppe, andere kommen gerade hinzu.

Die Darstellung maskierter Individuen hat zu der Hypothese geführt, dass sie eine schamanische Rolle spielten, doch allgemeiner könnte man sie als Personen definieren, die mit magischen oder heiligen Praktiken verbunden waren. Schamanismus im Paläolithikum ist ein viel diskutiertes, aber nicht von allen Wissenschaftler:innen akzeptiertes Phänomen.

Es handelt sich hier um eine der wenigen komplexen Szenen, die im Paläolithikum ausgeführt wurden, denn in dieser Zeitspanne wurden bevorzugt einzelne Figuren, Paare oder kleine Gruppen dargestellt. Originell ist ebenfalls der Stil, naturalistisch, aber nicht wirklichkeitsgetreu, synthetisch und klar in der Darstellung des Geschehens.

Unterhalb der Szene ist ein großer Damhirsch zu sehen, der mit verdrehten Beinen auf der Erde liegt, möglicherweise tot. Es gibt keine offensichtlichen Verbindungen zwischen dieser Figur und der Hauptszene. Weitere Tierfiguren, die sicherlich nichts mit der eigentlichen Szene zu tun haben, sind an verschiedenen Stellen der Felswand eingraviert.

Diese Nachbildung wurde vom Prähistorischen Museum und Institut „Paolo Graziosi“ in Florenz zur Verfügung gestellt.

Texte: Prof. Dr. Fabio Martini, Direktor des Prähistorischen Museums und Instituts „Paolo Graziosi“, Florenz