Alexandra Daisy Ginsberg

Pollinator Pathmaker: AfyLbwTriWhuR7PDkd77LZ (Pollinator Vision, Late Spring)
Pollinator Pathmaker: ARr77zvQW8Bq8q6hgDHUmp (Pollinator Vision, Late Summer)
Pollinator Pathmaker: AfyLbwTriWhuR7PDkd77LZ (Pollinator Vision, Late Summer) 

Pollinator Pathmaker: iFADDiPqc5HU3KiFxjBEuG (Pollinator Vision, Early Summer)
Pollinator Pathmaker: AfyLbwTriWhuR7PDkd77LZ (Pollinator Vision, Midsummer), 2023
Fünf Pigmentdrucke auf Barytpapier mit Landschaftskreationen, hergestellt mit der Software Pollinator Pathmaker
Jeweils 203 x 125 cm
Beauftragt von Frankfurter Kunstverein

Pollinator Pathmaker, 2021
Online Tool pollinator.art
© Alexandra Daisy Ginsberg Ltd

Courtesy die Künstlerin

Alexandra Daisy Ginsberg arbeitet an der Schnittstelle von Kunst, Ökologie und Technologie. Für den Frankfurter Kunstverein hat sie eine neue Werkserie geschaffen. Fünf großformatige Drucke zeigen die verschiedenen Jahreszeiten der noch nicht realisierten lebenden Kunstwerke von Pollinator Pathmaker. Die gewählte Perspektive ihrer Bilder ist die von Bestäuberinsekten. Pollinator Pathmaker ist Ginsbergs fortlaufendes Kunstwerk, bei dem die Künstlerin Grundstücke zu biodiversen Landschaften umgestaltet. Sie hat einen Algorithmus entwickelt, der standortspezifische Bepflanzungsschemata erstellt, die, sobald sie gepflanzt sind, zu lebenden Kunstwerken für andere Arten werden. Das Design des Algorithmus gestaltet die Bepflanzung nicht nach menschlichen ästhetischen Kriterien, sondern nach den Bedürfnissen und der Art der Nahrungssuche der Bestäuberinsekten, darunter Bienen, Wespen, Motten, Käfer und Schmetterlinge. Die Auswahl der Pflanzen ergibt sich aus den jeweiligen Bioregionen, an denen bereits Pollinator-Pathmaker „Plant Palettes“ (Pflanzenpaletten) bisher in Auftrag gegeben wurden – zurzeit in Atlantik- und Kontinental-Europa. Die Liste der Pflanzen wurde von der Künstlerin in Zusammenarbeit mit Gartenbaukünstler:innen und Expert:innen für Bestäubung recherchiert und kuratiert.

Jeder Garten ist ein Unikat mit einzigartigem Bepflanzungsplan, der die größtmögliche Vielfalt an lokalen Bestäuberarten unterstützt. Die Künstlerin bezeichnet die Technologie, die sie geschaffen hat, als „altruistischen Algorithmus“ oder als „Empathie-Tool“, weil ihre Priorisierung auf die größtmögliche Anzahl von Vorteilen für Bestäuber und nicht auf Menschen ausgerichtet ist. Berücksichtigt werden Bestäubertypen, Blütezeiten, die Verträglichkeit von Pflanzen miteinander, Blütenform und visuelle Wahrnehmungsspektren von Farbfrequenzen werden berücksichtig. Der Algorithmus kalkuliert die Auswahl und Anordnung der Pflanzen so, sodass die ganzjährige Blütezeit und die Formen der Nahrungssuche berücksichtig werden: Einige Insektenarten merken sich die effizientesten Routen zwischen den Blumen, um mit minimalem Energieaufwand so viel Nektar wie möglich zu sammeln, während andere eher zufällig suchen.

Für Bending the Curve sind fünf großformatige Drucke von nicht realisierten Bepflanzungsplänen entstanden, die nicht die menschliche Sichtweise abbilden. Alexandra Daisy Ginsberg malt digital jede Pflanze, die in ihren „Plant Palettes“ erscheint, so dass man sich jedes potentielle lebende Kunstwerk in einem virtuellen raum vorstellen kann, bevor es gepflanzt wird. Ginsberg ist durch digitale Gärten geflogen und hat die Perspektive von Bestäubern gewählt – aus der Sicht eines niedrigen Fluges oder vom Boden aus. Die Farben der Blüten lassen auf die verschieden Farbwahrnehmungsspektren von verschiedenen Insektenarten schließen. Bewusst bricht Ginsberg mit den Prinzipien klassischer Landschaftsmalerei. Man könnte fast an eine extreme Erweiterung der Idee englischer Landschaftsgärten denken. Im 18. Jahrhundert brachen diese mit den mathematisch-geometrischen Anordnungen der damals dominierenden französischen Barockgärten, um sich der natürlichen Pflanzenanordnung anzunähern.

Trotz der Nutzung von Technologie distanziert sich Ginsberg ausdrücklich von der Idee, Klima und Biodiversitätskrisen über sogenannte Techno-Fixes zu lösen. Sie plädiert für eine grundlegende Veränderung des menschlichen Verhaltens, politischer Entscheidungen und wirtschaftlichen Handelns. Alexandra Daisy Ginsbergs Arbeit wird weniger von einer Idee der Reparation geleitet als der einer Fürsorge für nicht-menschliche Mitlebewesen. Pollinator Pathmaker strebt einen Perspektivenwechsel sowohl in der Betrachtung als auch in der Gestaltung des Miteinanders an. Sich von einer rein menschlichen, anthropozentrischen Sicht zu lösen, bedeutet, die vielfältigen nicht-menschlichen Welten wahrzunehmen und in den Blick zu bekommen.

Alexandra Daisy Ginsberg steht für einen Kunstbegriff, der nicht allein das Werk in den Mittelpunkt stellt, sondern auch eine Haltung. Sie schafft Langzeitprojekte, die auf einer wissenschaftlichen Grundlage beruhen und durch einen erweiterten Kunstbegriff in den realen gesellschaftlichen Raum eingreifen. Pollinator Pathmaker aktiviert Menschen und gewinnt sie für gemeinschaftliche Bepflanzungsaktionen. Auf den Flächen entstehen lebende Werke als artenübergreifende soziale Plastiken im öffentlichen Raum. Dafür sucht sie explizit auch die Zusammenarbeit mit Kulturinstitutionen. So entstanden im Auftrag der LAS Art Foundation ein Pollinator-Pathmaker-Kunstwerk auf dem Vorplatz des Museums für Naturkunde in Berlin, ein weiteres in den Kensington Gardens für die Serpentine Gallery in London und das Eden Project in Cornwall (UK). Ginsberg betrachtet jeden Auftrag als Kunstedition einer stetig wachsenden Serie lebender, prozesshafter Kunstwerke.

Die Künstlerin will ihr Wissen teilen und stellt auf der Webseite pollinator.art den Pollinator-Pathmaker-Algorithmus der Allgemeinheit zur Verfügung. Von der Größe eines Blumenkastens bis zu einer Fläche von 15 x 15 Metern kann ein Bepflanzungsplan zur individuellen Umsetzung erstellt werden. Anhand von Größe und geografischer Lage des Areals, der Bodenart, des Lichts und der Exposition berechnet der Algorithmus individuelle Entwürfe für die Bepflanzung. Indem es Ginsbergs digitale Gemälde verwendet erstellt das System ein einzigartiges Design, eine Pflanzanleitung und grundlegende Informationen über die empfohlenen Pflanzen, ihre Entwicklung zu unterschiedlichen Jahreszeiten sowie eine Visualisierung des Gartens aus menschlicher Sicht und aus der von Bestäubern.

Ginsbergs Vision ist es, immer mehr Mitstreiter:innen zu finden, die mit dem Pollinator-Pathmaker-Algorithmus auf dem gesamten Globus ortsspezifische Kunstwerke für Insekten anlegen. Entstehen könnte ein global verteiltes Kunstwerk mit kollektiver Autor:innenenschaft und nicht-menschlicher Nutzung. Jede Edition würde als weiterer Zufluchtsort für Bestäuber dienen und dazu beitragen, ein grenzüberschreitendes Kunstwerk und Netzwerk zu schaffen.

Regeneration, so der Umweltschützer Paul Hawken in seinem Buch Regeneration: Ending the Climate Crisis in One Generation, bedeutet, das Leben in den Mittelpunkt jeder Handlung und Entscheidung der Gesellschaft zu stellen. Es rücken Fragen der Ethik zwischen den Arten und die Notwendigkeit praktischer Wege in den Vordergrund, wie Menschen und andere Lebewesen Räume gerecht teilen können und wie eine radikale Neuplanung und Neuausrichtung unserer Beziehungen, zum Beispiel zu Insekten, aussehen kann. Es würde bedeuten, anzuerkennen, dass alles Wachstum auf Gegenseitigkeit beruht.

Auch in der zeitgenössischen Kunst tragen Künstler:innen seit Jahren Ideen und praktische Anweisungen für regenerative Ansätze bei. Regeneratives Handeln fordert ein Umdenken in der Art und Weise, wie wir die gebaute Umwelt gestalten und schaffen. Regeneratives Wirtschaften und Handeln trägt mit Ideen und verändertem Vorgehen dazu bei, die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft zu verbessern, die Gesundheit des Planeten wiederherzustellen und ökologische Systeme zu regenerieren. In diesem Kontext bietet Pollinator Pathmaker von Alexandra Daisy Ginsberg einen wegweisenden Ansatz, eine Haltung der Selbstermächtigung im Kampf für den Erhalt der Artenvielfalt.

BESTÄUBER UND BLUMEN: EINE (NUN GEFÄHRDETE) SYMBIOSE SEIT ÜBER 200 MILLIONEN JAHREN

Bienen, Schmetterlinge, Motten, Fliegen, Käfer und Wespen zählen zu den Bestäuberinsekten. Weltweit gibt es 350.000 Arten von Bestäubern. Sie besuchen Blüten, um Nektar zu trinken oder sich von Pollen zu ernähren, und transportieren dabei Pollenkörner von Ort zu Ort. Sie helfen somit der Pflanze bei ihrer Reproduktion und Verbreitung. Weil sich Pflanzen nicht fortbewegen können, gehen sie eine Kooperation mit den Insekten ein, um ihre eigene Existenz zu sichern. Die Schönheit von Blumen, einschließlich ihrer leuchtenden Farben, spielt eine wichtige Rolle bei der Anziehung von Bestäubern. Insekten werden besonders von blauen Farben angezogen, die in der Natur selten vorkommen. Einige Blumen erzeugen dafür optische Effekte wie das sogenannte Irisieren. Auch Duft spielt eine zentrale Rolle.

Neue Forschungen an der Universität von Tel Aviv (Prof. Lilach Hadany, Molecular Biology Ecology of Plants, Faculty of Life Sciences) beschäftigen sich mit der Phytoakustik, die die Wirkung von Geräuschen auf Pflanzen untersucht. Ihre Erkenntnisse zeigen, dass Blumen die Vibrationen anfliegender Insekten wahrnehmen und darauf reagieren, indem sie süßeren Nektar für diese produzieren. Diese Art symbiotischer Beziehung wird „Mutualismus“ genannt. Die Wechselseitigkeit zwischen Pflanzen und bestäubenden Insekten hat die Geschwindigkeit der Evolution blühender Pflanzen erhöht. Sie passen sich an die körperlichen Merkmale der Insekten innerhalb weniger Generationen an.

Blumenwiesen gehören zu den Ökosystemen mit der höchsten Biodiversität. Ein Drittel der heimischen Pflanzenarten, Bestäuberinsekten und weiterer Tierarten lebt in Blühwiesen. Im letzten Jahrhundert sind rund 98 % der Blumenwiesen aufgrund von Flächenversiegelung sowie der Umwandlung von Land in Monokulturen für agroindustrielle Landwirtschaft, intensiver Düngung mit Gülle und Kunstdünger sowie kurzer Mähintervalle verschwunden. Durch staatliche finanzielle Unterstützung, beachtliche Mittel aus Steuergeldern und EU-Subventionen werden Magerwiesen und Feuchtwiesen in profitables Grünland verwandelt. Die Bedrohung der Blumenwiesen als Lebensraum steht im direkten Zusammenhang mit dem Rückgang der Bestäuberinsekten. Allein in Deutschland sind in den letzten 25 Jahren 75 % der Insekten verschwunden, was einen alarmierenden Rückgang der bestäubenden Insekten bedeutet und den rapiden Verlust der Artenvielfalt verdeutlicht. Der Rückgang betrifft nicht nur die Biomasse der Insekten, sondern vor allem ihre Vielfalt.

Ein Rückgang der Artenvielfalt bei Bestäubungsinsekten steht zudem im direkten Zusammenhang mit dem Rückgang der Pflanzenvielfalt. Der rasante Rückgang der Arten verarmt Ökosysteme und in letzter Instanz bedroht es das menschliche Überleben. Denn Bestäuber unterstützen Ökosysteme und drei Viertel des weltweiten Nahrungssystems. Eine neue Achtsamkeit für die Bedürfnisse von Insekten würde bedeuten, unser Leben auf dem Planeten zu sichern – nicht nur, weil diese Lebewesen den Menschen zugutekommen (nature for people, IPBES), sondern auch, weil sie allein durch ihre Existenz einen Wert haben (nature for nature, IPBES). Der Wert eines Lebewesens kann nicht nur in monetären Begriffen gemessen werden.

Unter der Berücksichtigung, dass die Veränderung der Landnutzung ein direkter Auslöser ist für das Artensterben, die Zerstörung von Ökosystemen und somit das Verschwinden von Insekten, ist die Rückgabe von Raum an die Natur ein regenerativer Lösungsansatz, der von zahlreichen internationalen Wissenschaftler:innen gefordert wird (Bending the Curve of Biodiversity Loss; IPBES; Club of Rome).

Alexandra Daisy Ginsberg (*1982, London, GB) ist eine multidisziplinäre Künstlerin, die in London lebt und arbeitet. Sie promovierte im Fach Design Interactions am Royal College of Art, London (GB) und erlangte einen Masterabschluss in Architektur an der University of Cambridge (GB). Seit vielen Jahren beschäftigt sich Ginsberg mit unseren komplexen Beziehungen zur Natur und Technologie. Anhand verschiedener Themen wie Künstliche Intelligenz, synthetische Biologie, Naturschutz und Evolution untersucht sie den menschlichen Drang, die Welt zu verbessern, während er die natürliche Welt um uns herum vernachlässigt. Ihr Projekt Pollinator Pathmaker, das sie im Jahr 2021 veröffentlichte, wurde mit dem S+T+ARTS Grand Prize 2023 for Artistic Exploration bei der Ars Electronica ausgezeichnet. Ihre Arbeiten sind Teil von internationalen Sammlungen wie der des Art Institute of Chicago (US), dem Cooper Hewitt Smithsonian Design Museum in New York (US) und dem ZKM Karlsruhe (DE). Sie hat in zahlreichen internationalen Institutionen ausgestellt, unter anderem im MoMa, New York (US), Centre Pompidou (FR), Bozar – Palais des Beaux Art, Brüssel (BE), Serpentine Galleries, London (GB), Vitra Design Museum, Weil am Rhein (DE) und der Royal Academy of Arts, London (GB). Zu ihren jüngsten Einzelausstellungen gehören Präsentationen im Museum für Naturkunde, Berlin (DE) und im Toledo Museum of Art, Toledo (US).