El Palomar

Mariokissme (Mario Páez, *1980, Campillos, Málaga, ES)
R. Marcos Mota (Rafa Marcos, *1988, Tarragona, ES)

Schreber is a Woman, 2020
4K-Video auf HD übertragen 2-Kanal synchronisierte Projektion
Farbe, Stereo, 30 min
Installation, variable Abmessungen
Courtesy die Künstlerinnen

Umgeschriebene Erinnerungen an eine kranke Gesellschaft

El Palomar ist ein erweitertes Kunstprojekt unter der Leitung von Mariokissme und R. Marcos Mota, das im Januar 2013 ins Leben gerufen wurde. Der Schwerpunkt liegt auf der Erforschung und Produktion von zeitgenössischen queeren Kunstprojekten und Werken, die mit der sexuellen und geschlechtlichen Dissidenz verbunden sind. Das Projekt, so die Künstlerinnen, „ist eingebettet in zahlreiche Diskurse, Themen und Praktiken, die nur schwer in die offizielle zeitgenössische Kultursphäre eingebracht werden können. Seit 2013 arbeiten wir daran, Begegnungen und Austausch zu schaffen und ein Programm zu entwickeln, das auf multiperspektivischer Forschung und mehrstimmiger Einbindung der Arbeit an den Rändern (aus dem Untergrund) basiert“.

Die Videoinstallation Schreber is a Woman (Schreber ist eine Frau) ist die zweite Episode einer sich in der Produktion befindliche Trilogie, die mit dem Stück No es homosexual simplemente el homófilo sino el cegado por el falo perdido (Nicht nur Homophile sind homosexuell, sondern auch diejenigen, die durch den verlorenen Phallus geblendet sind), 2016, beginnt. Diese erste Episode der Trilogie basiert auf dem unvollendeten gleichnamigen Drehbuch des Anthropologen Alberto Cardín (1948-1992). Die Künstlerinnen haben das unvollendete Drehbuch fertig geschrieben, führten Regie und wirkten als Schauspielerinnen mit.

Alberto Cardín war eine intellektuelle Figur, die mit der Stadt Barcelona verbunden war, eine unbequeme und kontroverse Persönlichkeit, eine Referenz im LGBTI-Diskurs und ein unkonventioneller Denker, der wie Pier Paolo Pasolini, den er sehr bewunderte, „immer das sagte, was niemand hören wollte“. El Palomar lässt Cardíns Rolle und seinen Einfluss wieder aufleben, um den Geist zurückzubringen, der im Demokratisierungsprozess nach dem Tod des Diktators Francisco Franco in den 1970er Jahren die Homophobie, den Rassismus, den Klassismus und die Frauenfeindlichkeit der Diktatur aufdeckte und anprangerte, die in der neu entstandenen Demokratie fortbestanden. El Palomar hält die Arbeit von Cardín auch in der Zeit des Paradigmenwechsels des so genannten zweiten Übergangs in Spanien im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre aufrecht. Cardín, der zu den ersten und wenigen Intellektuellen gehörte, die sich mit dem Thema AIDS auseinandersetzten und seine Krankheit öffentlich machte, erklärte dies folgendermaßen: „Soziale Systeme konstituieren sich ideologisch, indem sie Körper, die als fremd wahrgenommen werden, an den Rand der Gesellschaft verbannen […].“

Die Videoinstallation Schreber is a Woman basiert auf der klinischen Fallstudie und den Memoiren von Daniel Paul Schreber Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903). Schreber war eine deutsche Richterin, die 1894, kurz nach ihrer Ernennung zur Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, in die Heilanstalt Sonnenstein in Sachsen eingewiesen wurde. Sie selbst erzählt in ihren Memoiren, dass sie sich wie eine Frau gefühlt habe, neben anderen Erfahrungen, die vom klinischen Apparat als Wahnvorstellungen verstanden wurden. Die Figur Schreber, die El Palomar durch Cardín bekannt wurde, beeinflusste Sigmund Freud bei der Entwicklung seiner Theorien über Paranoia, Schizophrenie und den Ödipuskomplex. Relevant für Schrebers Geschichte ist die Tatsache, dass ihr Vater, Dr. Moritz Schreber (1808-1861), Autor mehrerer Bücher war, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts populäre autoritäre Modelle der körperlichen und moralischen Erziehung propagierten und dazu beitrugen, die Psyche der deutschen Gesellschaft in Richtung Nationalsozialismus zu lenken.

Die Videoinstallation ist erzählerisch und musikalisch eine Art „Techno-Operette”, in der die Künstlerinnen die von Schreber in ihren Memoiren beschriebenen Visionen und Stimmen aus transfeministischen und queeren Perspektiven neu interpretieren. Das Stück ist eine Aufforderung, die Figur des Vaters als Repräsentant einer patriarchalen Moral und des Kapitalismus symbolisch zu töten. Die Künstlerinnen vertreten mit ihrer Arbeit auch eine kritische Haltung gegenüber der Psychoanalyse, die Homosexualität und Transsexualität als Problem identifiziert, das auf Trauma zurückzuführen ist. Somit schließen sie sich an Cardíns Aussage an, dass Homosexualität nur in nicht-integrativen Gesellschaften ein Problem sei. „Es ist sehr interessant, wie Schreber, die Atheistin war, inmitten eines schizophrenen Wahns ihre eigenen Götter erfindet, um ihren Bruch mit dem ihr zugewiesenen Geschlecht und Sexualität zu verbinden. In unserem Film wollten wir die Schuldgefühle und die moralische Verurteilung, die Schreber selbst ihrerzeit in ihren Memoiren beschrieb, aufheben, die Figur sexuell von den aktuellen queeren Ansprüchen befreien und ihr – zumindest in der Fiktion – einen Raum der Freude eröffnen.“ In dem Stück wird Schreber von einer nicht-binären Person gespielt und die Göttinnen von zwei Transfrauen.

Parallel zum Film sind in einer Vitrine eine Reihe von Dokumenten und Gegenstände zum Fall Schreber ausgestellt. Es handelt sich nicht um eine Dokumentation, sondern um ein eigenständiges Werk, das die Kraft hat, eine Geschichte zu erklären, die mit der des Films korreliert. „Dieses Konzept der Vitrine findet sich in mehreren der von uns durchgeführten Projekte wieder. Für uns ist es eine grundlegende Praxis, die dazu dient, die ästhetische Erfahrung als Ganzes empirisch zu umreißen und die Objektivität des Werkes selbst zu bestimmen.“

 

El Palomar ist ein Kollektiv, das 2013 von Mariokissme (Mario Páez, *1980, Campillos, ES) und R. Marcos Mota (Rafa Marcos, *1988, Tarragona, ES) in Barcelona (ES) gegründet wurde. Sie eröffneten einen Raum in einer kleinen Wohnung in Barcelona Poble Sec mit dem Ziel, Projekte, Prozesse, Referenzen und Netzwerke im Zusammenhang mit sexueller Dissidenz und heterodoxen Sexualitäten zu schaffen, um queere und künstlerische Gemeinschaften neu zu definieren und transfeministische Erfahrungen hervorzubringen und zu teilen. Der Ort blieb vier Jahre lang geöffnet und wurde später zu einem Kollektiv, das Forschung und künstlerische Produktionen fördert. Die Arbeit des multidisziplinären Kollektivs umfasst Video-, Performance-, Musik- Grafik-, Publikations- und Kurator:innenprojekte, deren künstlerische Praxis unterschiedliche Arten des Seins und Handelns kritisch diskutieren. Ihre Arbeiten wurden in Museen und Kulturzentren ausgestellt, wie z. B. Leslie-Lohman Museum of Art, New York (US), MACBA Barcelona Museum für zeitgenössische Kunst, Barcelona (ES), 11. Berlin Biennale, KW Institute for Contemporary Art, Berlin (DE), MUSAC Museo de Arte Contemporáneo de Castilla y León (ES), HKW Haus der Kulturen der Welt, Berlín (DE), Espai 13, Fundació Miró, Barcelona (ES).