Gintarė Sokelytė, A-Type-Complex und 25
A-Type Complex, 2024
Installation
Baugitter, Steinkohle, Spiegelfolie, Bildschirm, Skulpturenserie aus Hasendraht, Gips und Motoröl
Höhe 255 cm / ⌀ 260 cm
25, 2024
Wandskulptur
Styropor, Eisendraht, Metall, verschiedene Kunststoffe, Motoröl
5 x 1,8 m
Courtesy die Künstlerin
A-Type Complex heißt die Halbkugel, Iglu-artig, welche aus geborgenen rostigen Baugittern geflochten mittig im Raum steht. Menschliche Figuren befinden sich aufrecht oder sitzend in ihrem Inneren. Sie sind weder weiblich noch männlich, keine Individuen, sondern Formen des Menschseins. Ihre Körper sind offen, roh und durchlässig. Sie erinnern an Überlebende einer Katastrophe. Das Material, aus dem Gintarė Sokelytė sie schafft, ist Gips – formbar und porös zugleich. Sokelytė hat die Figuren mit dem ausgebrannten Maschinenöl von Motoren bemalt. Das mineralische Öl ist zähflüssig, toxisch und gleichzeitig die Flüssigkeit, mit der das Triebwerk des Industriezeitalters am Laufen gehalten wurde.
Der Boden ist bedeckt mit Steinkohle, aus der heraus die Menschen sich erheben. Die Leiber sind hohl, zerfressen und wie durch einen Brand auf ihre essenzielle Figur reduziert. Unter ihnen ein Monitor. Der Lauf der Zeit tickt unerbittlich weiter und springt dann doch immer wieder auf einen Ausgangspunkt zurück. Zeit nimmt einen besonderen Stellenwert in Sokelytės Arbeit ein. The Tyranny of the Clock des Schriftstellers George Woodcock fasziniert die Künstlerin. Zeit, Taktung und Vermessung als unterscheidendes Merkmal zwischen frühen Gesellschaften und den Menschen in der Moderne. Und Zeit als Struktur und Ordnung, die das Leben und die Erfahrung von Individuen bestimmt. Über dem Gitter-Iglu hängt ein Spiegel, der die halbkugelhafte Form doppelt. In der Spiegelung deutet sich die Erinnerung an eine Sanduhr an. Zeit und Vergänglichkeit, Vergangenes und immer Wiederkehrendes als ewige Prinzipien allen Lebens.
Der letzte Teil der Großinstallation besteht aus einer 5 Meter langen Wandskulptur. 25 lautet der Titel des schwarzen, dreidimensionalen Werkes. Ein dichtes Gebilde aus Architektur, geometrischen Strukturen, Ruinen aus Gitter und Stein und einem Menschenstrom, der sich durch die Konstruktion windet. In seiner Verdichtung und Überlagerung erinnert das Werk an ein mittelalterliches Altarbild. Abstrakt und doch konkret. Gintarė Sokelytė hat es aus Fundmaterialien gebaut. Aus den Werkstoffen, die die Stadt selbst hervorbringt, verwendet und zurücklässt.
Die Künstlerin schreibt jedem ihrer Materialien einen starken erzählerischen Wert zu. So ist das Wandbild, ebenso wie die menschlichen Figuren, nicht mit Farbe bemalt, sondern geschwärzt durch den schichtweisen Auftrag von verbranntem Motoröl. Dieser toxische Stoff ist ein Restabfall industrieller Produktion. Aus der Verbrennung der Motoren. Ein Schmieröl, das, nicht abbaubar, an den Menschen klebt. Auch die Steinkohle stellt für die Künstlerin einen assoziativ dichten Stoff dar. Das Material vereint in sich die Zeit – die Urzeit ihrer erdgeschichtlichen Entstehung seit über 350 Millionen Jahren, es war Katalysator der menschlichen Energiegewinnung, von der Frühzeit bis zur Industrialisierung im Zeitalter der Maschinen und dann als Rohstoff und Treiber toxischer Umweltauswirkungen.
Wie wirkt das Vergangene ins Heute, wie ist das Zukünftige im Jetzt schon angelegt? Gintarė Sokelytė hat für die Ausstellung im Frankfurter Kunstverein eine verblüffende und monumentale Welt geschaffen. Ihre Bildräume sind Erlebniswelten, die Assoziationen öffnen und die Betrachter bis ins Mark ihrer emotionalen Schattenwelt zu treffen wissen. Sokelytė denkt in Bildern und arbeitet mit ganz eigenen Referenzen. Wie ein Aby Warburg stellt sie ihren Bildatlas – ihren Mnemosyne-Atlas – zusammen, aus dem sie ihre Großinstallationen speist.
Sie ist eine Suchende, die danach strebt, Wissen zu erlangen, Verbindungen herzustellen, um das zu ergründen, was die Welt, was die Menschheit, was die Ewigkeit der Zeit im Innersten zusammenhält.