Grußwort von Prof. Dr. Andreas Mulch
Direktor Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt

Die Welt, in der wir leben, ist das Ergebnis einer mehrere Milliarden Jahre dauernden Entwicklung der Natur. Der Wandel unseres Planeten, der mit dieser Entwicklung einhergeht, kann unentdeckte Einblicke geben in die Art und Weise, wie die Erde mit Veränderung umgeht. Wissenschaft und Kunst bieten sehr unterschiedliche Zugänge zur Entdeckung der Natur. Beide vereinen sich jedoch wunderbar in dieser Ausstellung, in der es um Einblicke in das Abwesende geht.

Wenn wir Funktionszusammenhänge zwischen der Lebewelt, der festen Erde und dem Klimasystem verstehen wollen oder wenn es darum geht, zu rekonstruieren, wie sich unser Planet über Millionen von Jahren verändert hat, müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich Informationen erarbeiten, die indirekt in das Vergangene Einblick geben. Sie nutzen zum Beispiel den chemischen Fingerabdruck, den ein globales Ereignis in geologischen Einheiten hinterlassen hat, um so dem Vergangenen, dem Abwesenden eine Gestalt zu verleihen und dieses greifbar zu machen. Die Erforschung der Entwicklung unseres Planeten, aus der Tiefe der Zeit bis ins Heute, geschieht durch präzise, umfangreiche und idealerweise innovative Messungen an Organismen und Materialien der Natur. Diese speichern die Informationen über ein zu rekonstruierendes Phänomen, eine Entwicklung oder ein einschneidendes Ereignis für die Lebewelt. Damit wir tief in diese Entwicklung des Planeten eintauchen können, müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unfassbar lange Zeiträume überwinden. Wir holen also das Gewesene in die Gegenwart; wir erforschen die Spuren einer Entwicklung. Das Anwesende eröffnet somit die Möglichkeit, Einblick zu nehmen in Prozesse und Abläufe, die vor langer Zeit bereits abgelaufen sind und ansonsten für immer verschlossen blieben.

Wenn man das Abwesende entdecken möchte, ist es notwendig, aus ungewohnter Perspektive auf eine Fragestellung zu schauen. Innovation, Kreativität und der Mut, ungewohnte Wege zu gehen, sind Grundlage für bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen. Sie sind aber auch eine Chance, Lösungen anzubieten für die vielfältigen Herausforderungen einer sich rapide verändernden Welt. Lösungen, die auf authentischem Wissen aufbauen. Hier wird Wissenschaft Teil des demokratischen Prozesses, den zu schützen unser aller Aufgabe ist. Die Frage, in welcher Welt wir in Zukunft leben wollen, ist eine gesellschaftliche Frage, für die die Wissenschaft – wenn man es so formulieren möchte – die Gestaltungsmöglichkeiten und Konsequenzen des Handelns beschreiben kann. Aus dem Anwesenden das Abwesende sichtbar machen, um Handlungsoptionen für das Wohlergehen von Mensch und Natur zu entwickeln, das ist unsere Chance.

Wir möchten in der Kooperation zwischen dem Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und dem Frankfurter Kunstverein, durch die Verbindung von Wissenschaft und Kunst neue Perspektiven und Narrative für das Verhältnis von Mensch und Natur aufzeigen. Beide Kooperationspartner bringen dazu ihre jeweils einzigartigen Kompetenzen ein. Wie verändert sich das Verhältnis zwischen Mensch und Natur vor dem Hintergrund zunehmend drängender globaler Fragen? Welche Zugänge ermöglichen es den Besucherinnen und Besuchern, sich selbst zu hinterfragen, ohne von der Größe und Komplexität dieser Fragestellung irritiert zu werden? In der Kooperation liegt für beide Einrichtungen die Chance, durch gemeinsam erarbeitete Inhalte die Natur und ihre Entwicklung aus unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen. Das Abwesende zur beschreibbaren Realität werden zu lassen, das ist die Kunst in der Wissenschaft.

Die Zusammenarbeit zwischen Frankfurter Kunstverein und Senckenberg ist immer wieder eine große Freude. Wir hoffen, dass die Besucherinnen und Besucher diese Begeisterung auch in der Ausstellung spüren und mitnehmen.

Prof. Dr. Andreas Mulch, Direktor Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt

 

Prof. Dr. Andreas Mulch ist seit 2010 Professor am Institut für Geowissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt und seit 2015 Direktor des Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt. Als Mitglied des Senckenberg Direktoriums verantwortet er das Forschungsprogramm der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung. Letztere ist eine der weltweit bedeutendsten Einrichtungen für Natur- und Biodiversitätsforschung und mit acht Instituten, drei Museen und rund 850 Mitarbeitern weltweit aktiv. Andreas Mulch wurde 2004 an der Universität Lausanne promoviert, seine Arbeiten führten ihn an die University of Minnesota, die Stanford University und die Leibniz-Universität Hannover. Seine Forschung fokussiert insbesondere auf Klimaveränderungen in der Erdgeschichte und die Zusammenhänge zwischen Klima- und Biodiversitätswandel sowie Gebirgsbildung. Andreas Mulch ist Fellow der Geological Society of America und war A. Cox-Professor an der Stanford University.