Heidi Bucher
Kleines Glasportal (Sanatorium Bellevue, Kreuzlingen), 1988
Gaze, Fischleim und Latex
455 x 340 cm
Ablösen der Haut, Herrenzimmer, 1979
Drei Fotografien von Hans Peter Siffert
75 x 50 cm; 44,5 x 30 cm; 30 x 44,3 cm; 44,2 x 30 cm
© The Estate of Heidi Bucher
Heidi Bucher im Libellenkostüm, Libellenlust, 1976
Fotografie von Thomas Burla
20 x 27,8 cm
© The Estate of Heidi Bucher
Ablösen des Kleinen Glasportals (Sanatorium Bellevue, Kreuzlingen), 1988
Video, Ein-Kanal-16-mm-Film (Farbe)
8:57 min
Film von Michael Koechlin
Produziert vom SWR (SWR Beitrag Kulturszene, Häutungen)
© The Estate of Heidi Bucher
Courtesy The Estate of Heidi Bucher und Lehmann Maupin, New York, Seoul and London
Heidi Bucher hat sich intensiv mit der Beziehung zwischen Raum, Materie und den Spuren flüchtigen menschlichen Lebens, das sich in die Materie einschreibt, befasst. Sie entwickelte eine einzigartige Technik und Arbeitsweise, die als „Raumhäutung“ bekannt ist: Bucher fixierte Gaze, ein leichtes, gitterartiges, halbtransparentes Baumwollgewebe, mit Fischleim auf Wänden, bestrich das Gewebe mit flüssigem Latex und zog dann die getrockneten Membranen mit großem körperlichem Kraftaufwand ab. Die entstandene Latexschicht zeigt das Relief des Raumes, aber gleichzeitig enthält es auch Partikel der Farben und der Patina, die beim Abziehen am Latex haften geblieben sind.
Bucher interessierte sich für das, was in den Räumen erlebt worden ist, für was die Orte sinnbildhaft stehen und welche Machtverhältnisse sie hervorgebracht haben. Als Künstlerin lebte sie in einer Zeit patriarchaler Strukturen, der herrschenden Ungleichheit von Frauen – die auch in der Kunstwelt der Avantgarde dominant war –, der sie sich mit ihrer freien künstlerischen Lebensweise entgegenstellte.
Wie Heidi Bucher selbst im Film von 1988 von Michael Koechlin sagt, der in der Ausstellung zu sehen ist, möchte sie das Verborgene – die in der Architektur eingeschriebenen Gefühle, Erinnerungen und Strukturen – enthüllen: „Räume sind Hüllen, sind Häute. Eine Haut nach der anderen abziehen, ablegen: das Verdrängte, Vernachlässigte, Verschwendete, Verpasste, Versunkene, Verflachte, Verödete, Verkehrte, Verwässerte, Vergessene, Verfolgte, Verwundete“ (in: Ablösen des Kleinen Glasportals (Sanatorium Bellevue, Kreuzlingen), 1988, 8:02 min).
Ihre „Häutungen“ sind Skulpturen in Negativformen, die aber als symbolhafte Akte der Befreiung von einer antiquierten und patriarchalischen Weltanschauung gelesen werden können.
Bucher begann ihre „Raumhäutungen“ ab 1973 in ihrem Atelier in Zürich, einer ehemaligen Metzgerei mit Kühlraum. Diesen Ort nannte sie „Borg“, wegen eines Gefühls der Geborgenheit, das sie hier verspürte. Später wandte sie sich ihrem Elternhaus in Winterthur zu: insbesondere dem „Herrenzimmer“, einem Raum, der im 19. Jahrhundert wohlhabenden bürgerlichen Hausherren und ihren männlichen Gästen vorbehalten war. Das gleichnamige Werk wurde zu einem ihrer bekanntesten. Danach entstanden die Häutungen im Ahnenhaus ihrer Großeltern. In den darauffolgenden Jahren arbeitete sie in geschichtsbeladenen Gebäuden, wie der Ruine des Grande Albergo in Brissago, das während des Faschismus als staatliches Internierungslager diente.
Im Frankfurter Kunstverein wird das Werk Kleines Glasportal (Sanatorium Bellevue, Kreuzlingen) gezeigt. Heidi Bucher fertigte es 1988 im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee an. Zwischen 1857 und 1980 war Bellevue eine private psychiatrische Heilanstalt. Hier praktizierte über viele Jahrzehnte die Psychiaterdynastie Binswanger. An diesem Ort nahm auch die Arbeit von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung ihren Lauf.
Bucher stellte eine Abformung des Eingangsbereichs des Gebäudes her. Wie viele Menschen und mit welchem Schicksal traten durch dieses Portal ein? Historische Aufzeichnungen berichten, dass auch Künstler und Wissenschaftler wie der Maler Ernst Ludwig Kirchner, der Schauspieler und Regisseur Gustaf Gründgens oder der Kulturanthropologe Aby Warburg hier Patienten gewesen sind. Sigmund Freud und Ludwig Binswanger führten in Bellevue ihre ersten Studien zu hysterischen Patientinnen durch. Hysterie war ein Zustand, der einst nur Patientinnen zugeschrieben wurde. Die psychiatrische Anstalt, ein Ort der Kontrolle und psychologischen Intervention, wird in Buchers Kunst zum Symbol für Machtstrukturen und fremdbestimmte Körperpolitiken. Bucher legt verdrängte und vernachlässigte Schichten frei, die mit der Unterdrückung und Regulierung von Körper und Geist, insbesondere der Frau, einhergehen.
Der Latex legt sich über die holzgetäfelten Wände, als wolle die Künstlerin eine unsichtbare Essenz des dort gelebten Lebens einfangen, der Gefühle und Geschicke, der gesprochenen Worte und letztendlich die Anwesenheit der Abwesenheit einfangen.
Heidi Buchers Werk ist ein Zeugnis der Komplexität der menschlichen Existenz und der unsichtbaren, emotionalen Spuren, die unser Leben und unsere Räume prägen. Ihre Kunst fordert dazu auf, das Verborgene und Vergessene neu zu betrachten und bietet eine tiefgründige Reflexion über die Vergegenwärtigung von Erinnerung und Emotion im Raum. Die Transformation der Architektur durch Buchers „Häutungen“ ist ein poetischer Prozess, der sowohl das Materielle als auch das Immaterielle umfasst und durch die Zerbrechlichkeit und Ästhetik ihrer Abdrücke eine besondere Art der Präsenz schafft.
Jede ihrer „Häutungen“ dokumentierte die Künstlerin filmisch oder fotografisch. Dadurch werden ihre physische Anstrengung und der intensive Entstehungsprozess erkennbar. Nach der Abnahme hüllte Bucher ihren eigenen Körper in die „Häute“ ein und verdeutlichte somit die intime Beziehung zwischen Körper, Raum und Zeit. Wie bei Insekten und Reptilien, die immer von neuem ihre Haut abstreifen, bleibt eine leere, verhärtete Form eines befreiten Körpers zurück. Buchers Werke können als symbolischer Akt der Selbstbefreiung gelesen werden, welche die Emanzipation von gesellschaftlichen und kulturellen Zwängen verkörpern. Das Wissen darum, wie tief ihr künstlerisches Handeln und ihre Methode in ihr eigenes Leben und ihre Erfahrungen eingebettet sind, berührt noch heute.
Heidi Bucher (*1926, Winterthur, CH; †1993, Brunnen, CH) war eine bedeutende Schweizer Künstlerin, bekannt für ihre einzigartigen Textilarbeiten und Latexskulpturen. Bucher wuchs als Adelheid Hildegard Müller in Wülflingen, CH, auf. Ihr Bezug zur Mode begann bereits während einer Lehre als Damenschneiderin, gefolgt von einem Studium an der Kunstgewerbeschule in Zürich von 1944 bis 1947 mit dem Schwerpunkt Modegestaltung. Danach lebte und arbeitete sie u.a. in den USA und Kanada, wo sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Carl Bucher tätig war und mit feministischen Positionen der Neo-Avantgarde in Kontakt kam, die ihr späteres Werk prägten. 1973 kehrte Bucher in die Schweiz, nach Zürich, zurück, wo sie an ihren Latexskulpturen arbeitete. Diese untersuchen die Beziehung zwischen Körper, Raum und Erinnerung durch abstrahierte architektonische Formen. Ihre letzten Jahre verbrachte Bucher auf den Kanarischen Inseln. In Europa wurde ihr Werk vor allem posthum in zahlreichen Ausstellungen gewürdigt. Zu ihren wichtigsten Einzelausstellungen zählen unter anderem das Kunstmuseum Bern (CH), Red Brick Art Museum, Beijing (CN), Haus der Kunst, München (DE), Parasol Unit, London (GB), Swiss Institute of Contemporary Art, New York (US), Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich (CH) und Los Angeles County Museum of Art (LACMA) (US). Buchers Arbeiten befinden sich in bedeutenden Sammlungen, wie dem Kunstmuseum Winterthur (CH), Centre Pompidou, Paris (FR), Museum of Modern Art, New York (US), Tate, London (GB), Solomon R. Guggenheim Museum, New York (US), Kunsthaus Zürich (CH) und dem Metropolitan Museum of Art, New York (US).