Julia Lohmann

Hidaka Ohmu, 2020
Algen auf Rattan und Schichtholz verklebt
535 x 325 x 224 cm

Corpus Maris II, 2023
Algen auf Rattan und Schichtholz verklebt
150 x 150 x 130 cm

Department of Seaweed
Atelierraum: Diverse Prototypen, Arbeitsproben und -material
Algenfurnier, Rattan-Konstruktionen, Skizzen, getrocknete Algen aus verschiedenen Ländern Europas und Asiens sowie aus Australien, Bildmaterial, Nachdruck des PhD Appendix, Algen auf Seilen hängend, Schneidmatte, Werkstattutensilien, Zeichnungen und Collagen

Courtesy Julia Lohmann Studio

Julia Lohmann ist Künstlerin und Professorin für Praktiken zeitgenössischen Designs an der Aalto-Universität in Helsinki. Seit Jahren forscht sie zu den Wesensmerkmalen und Lebensbedingungen von Seetang und Kelp. Lohmann verfolgt die Idee des „Knowing, Acting, Caring“, des Wissens, Handelns und Fürsorgens, die sie in grafischen Denkmodellen zu den Beziehungsnetzen von Mensch und Natur strukturell aufarbeitet. Die Künstlerin steht für eine Haltung, bei der der kartesianische Dualismus überwunden und zwischen Menschen und nicht menschlichen Lebewesen das Verbindende gesehen wird. Der Blick liegt hier auf dem Verständnis komplexer wechselseitiger Beziehungen von Lebewesen, die alle Teil eines voneinander abhängigen Gesamtsystems sind.

Seit 2007 verwendet Julia Lohmann Seetang als Material für ihre raumgreifenden Skulpturen und andere künstlerische Arbeiten. Seetang ist eine schnellwachsende Makroalge, die dichte Unterwasserwälder und -felder bildet. Alle erforderlichen Nährstoffe für ihr Wachstum bezieht sie aus dem Meerwasser, der Atmosphäre und der Sonne. Sie bindet große Mengen Kohlendioxid, produziert Sauerstoff, reinigt die Meere und bietet anderen dort lebenden Organismen Lebensraum und Nahrung. Sie trägt zur Erosionsverhinderung an den Küsten bei, indem sie die Kraft der Wellen abschwächt und als natürliche Barriere dient.

Bei jedem Atemzug, den der Mensch auf dem Planeten nimmt, stammt die Hälfte des Sauerstoffs von Algen und Plankton, die in den Weltmeeren leben. Diese Photosynthese betreibenden Lebewesen sind seit Milliarden Jahren für die besondere Zusammensetzung der Atmosphäre unseres Planeten und somit für alles Leben auf ihm verantwortlich. In den Meeren bilden sie für zahlreiche Lebewesen, bis hin zum Menschen, eine essentielle Nahrungsmittel-Grundlage.

Für Bending the Curve hat Julia Lohmann eine große Rauminstallation mit mehreren Elementen konzipiert. Corpus Maris II (lat. für „Meereskörper“ oder „Wesen des Meeres“) ist eine von der Decke hängende Plastik, die in ihrer Form an Quallenkörper erinnert. Zentral im Raum steht Hidaka Ohmu. Diese Skulptur ist begehbar, ein organisch geformter Pavillon, dessen Hülle aus halbtransparentem Seetang geschaffen wurde, der über ein leichtes Rattangestell gespannt ist. Die Riesenskulptur ist an den Wänden befestigt, aus denen sie förmlich herauszuwachsen scheint. Geht man durch sie hindurch, gelangt man in einen weiteren Raum, der wie ein studiolo anmutet, das der Untersuchung von Kunst, gesellschaftlichen und ästhetischen Erkenntnissen und der Eigenschaften von Algen gewidmet ist und den Lohmann Department of Seaweed nennt.

Diese Arbeiten sind exemplarisch dafür, wie Lohmann prozesshaft und experimentell mit Seetang arbeitet und dabei mit den Mitteln der Kunst die übergeordnete Frage nach menschlichem Handeln in und mit Ökosystemen beleuchtet.

Der Titel Hidaka Ohmu stellt einen Bezug zu Japan her, wo die Künstlerin ihre Forschungsarbeiten zu Meerespflanzen vor Jahren begonnen hat. In Japan wird Kelp seit vielen Generationen geerntet und ist integraler Bestandteil der Kultur und der Ernährung. Hidaka ist eine Region auf der japanischen Insel Hokkaido, aus der der Kelp stammt. Ohmu ist der Name insektenartiger Fantasiewesen aus dem japanischen Animationsfilm Nausicaä aus dem Tal der Winde (1984) des Autors Hayao Miyazaki. In seiner Geschichte beschützen Ohmus den Wald und bringen die von Menschen aus der Balance gebrachten Ökosysteme von Böden und Wasser in ein Gleichgewicht zurück.

Die in der japanischen Kultur zentrale Idee des „Wabi Sabi“ ist für Lohmanns Arbeitsweise von großer Bedeutung. Vergänglichkeit, Unvollkommenheit und Unbeständigkeit werden hier nicht als Grenzen, sondern als Potenzial für zukünftiges Sein gedeutet. Immer wieder zeigt Lohmann in ihren Arbeiten das Unfertige – das non finito, das im „Wabi Sabi“ die Offenheit für alles Werdende, das Mehrdeutige und den Raum der Spekulation in den Mittelpunkt stellt.

Im Kontext von Kunst, Handwerk und Design bedeutet dies, die Qualitäten von Materialien in ihrer natürlichen Unvollkommenheit zu würdigen und so zu belassen, dass sie nicht verfälscht werden. Ihre achtsame Gestaltung soll die Vorstellungskraft des Betrachters aktivieren und Raum für Mehrdeutigkeit schaffen.

Die Werke verändern sich mit dem Vergehen der Zeit. Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Licht beeinflussen die Beschaffenheit und Farbe der Algenhalme und somit von Lohmanns Skulpturen. Die Pflanzenschafte trocknen aus und ziehen sich in einem natürlichen Prozess zusammen. Die Künstlerin behandelt den Kelp mit Leinöl, sodass er flexibel genug bleibt, um ihn auf die Rattanstruktur zu spannen. Während zerbrechliche Materialien kurze Molekülketten besitzen, verfügen formbare Materialien über lange. In nassem Seetang sind die Molekülketten durch Wasser miteinander verbunden. Beim Trocknungsprozess der Alge verdunstet das Wasser, die Molekülketten verkürzen sich und die Fasern ziehen sich zusammen. Um die Alge ähnlich wie Leder zu strecken, hat Lohmann ein Verfahren gefunden, das ausreichend Wasser in dem hydrophilen Material hält. Dabei unterstützen sich Seetang und Rattan gegenseitig: Seetang bietet Zugkraft und Rattan Festigkeit.

Auch die Farbe des Seetangs unterliegt in Lohmanns Arbeiten einem kontinuierlichen Wandel. Die ursprünglich durch das Chlorophyll grün gefärbten Seetangblätter bei Hidaka Ohmu und Corpus Maris II sind in der Ausstellung in einem warmen, durchsichtigen Gelb zu sehen.

Bei den Proportionen ihrer Skulpturen richtet sich Lohmann nach der Größe der geernteten Algenhalme. Seetang, insbesondere Saccharina Japonica, erreicht in nur einem Jahr eine Länge von bis zu sechs Metern und eine Breite von vierzig Zentimetern. Lohmann versucht, die Meerespflanzen in ihrer Gänze als Materialbahn zu verwenden, um das Aussehen und die Anmutung der natürlichen Form wie unter Wasser zu erhalten.

Lohmann will das biologische Material so wenig wie möglich verfremden. Sie betrachtet Seetang nicht als Rohstoff, sondern als lebendigen, prozesshaften und eigenständigen Organismus, mit dem sie in Interaktion tritt. Die Künstlerin möchte seine Eigenschaft erhalten, seine „Seaweedness“ („Seetangartigkeit“) sichtbar machen. Dem Lebewesen Seetang spricht sie eine eigene Handlungsfähigkeit zu, eine eigene „agency“. Die Pflanze ist nicht leblos oder passiv und daher kein reiner Materiallieferant, sondern ein Lebewesen, mit dem der Mensch in seinem Handeln in ein Verhältnis tritt.

Daher sind die skulpturalen Installationen keine Oberflächen, die nur durch äußerliche Betrachtung erfahrbar sind. Hidaka Ohmu ist begehbar. Besucher:innen gelangen durch Passagen in sein Inneres, in den Bauch der Skulptur. Spiegeloberflächen im Durchgang erzeugen Doppelungen und Täuschungen. Im Inneren liegt der Geruch des Meeres und der vielen unterschiedlichen Algen, die Lohmann ausstellt, um ihren Arbeitsraum in den Ausstellungsraum zu übersetzen. Diverse Prototypen, Arbeitsproben und Seetang in seiner rohen Form und in unterschiedlichen Trocknungsstadien sind ausgestellt. Unfertige Rattankonstruktionen, Skizzen, Mindmaps und ein Ausdruck von Lohmanns Doktorarbeit geben Einblick in ihre Forschungs- und Produktionspraxis. Es ist nicht das fertige, museale Werk, sondern der Prozess, die Arbeit, das Forschende und das Haptische, was sie fesselt.

Lohmann arbeitet in einer kollektiven Praxis (community of practice), im Zusammenschluss mit Menschen verschiedener Disziplinen. Sie praktiziert die Methode der Co-Spekulation: Jede:r kann Imagination und Assoziationskraft einbringen und zu möglichen zukünftigen Formen der Fürsorge für und des Handelns mit Seetang beitragen. Lohmann hat zahlreiche DoS-Prototyping-Workshops an Universitäten, Kulturinstitutionen, aber auch für politische Organisationen wie das EU-Parlament durchgeführt. 2020 wurde Lohmann vom Weltwirtschaftsforum in Davos eingeladen, Hidaka Ohmu dort zu zeigen.

Damit das entstandene Wissen und die Forschungsergebnisse zu Seetang stetig erweitert werden, aber der Allgemeinheit immer zugänglich bleiben, orientierte sich Julia Lohmann am Lizenzsystem der Creative Commons (CC): Alle Beiträge und Forschungsergebnisse, die im Rahmen des DoS entstehen, unterliegen den Lizenzbedingungen der CC. Die Verbreitung und Nutzung der Forschungsergebnisse werden gefördert, sofern sie im Einklang mit den Prinzipien der Nachhaltigkeit stehen.

Lohmann teilt eine Haltung, die Reziprozität als Prinzip der Begegnung mit anderen fordert. Aus indigenem Wissen und Handeln hervorgehend, nun immer mehr auch ins westliche Denken einbezogen, ist Reziprozität die Praxis, Dinge mit anderen zum gegenseitigen Nutzen auszutauschen. Die Gegenseitigkeit beschränkt sich nicht nur auf Mitmenschen, sondern fordert einen achtsamen Umgang gegenüber allen Mitlebewesen. Lohmanns Department of Seaweed steht für eine regenerative Designforschungspraxis, die vor allem eine ethische Haltung verkörpert.

Vor 450 Millionen Jahren entwickelten sich durch evolutionäre Prozesse erste Pflanzen zu Land aus Meeresalgen. Meeresplankton, also der Urorganismus, der zur Photosynthese fähig war, hat vor Billionen Jahren Sauerstoff in die Atmosphäre freigesetzt und so die Grundlage für jede weitere Entwicklung komplexerer Lebensformen auf der Erde gebildet. Algen sind der Ursprung der Pflanzenwelt auf der Erde. Unterschiedliche Disziplinen der Bioökonomie erforschen heute zunehmend Algen und Seetang. Die Pflanzen wachsen schnell und haben die Fähigkeit, Schwermetalle und Schadstoffe aus dem Wasser zu filtern. Sie können auf eine umweltschonende Weise angebaut und geerntet werden. Als „Bambus des Meeres“ kann Seetang aus dem Wasser auch Schadstoffe aus landwirtschaftlichen Abwässern (Nitrat) und Fischausscheidungen filtern, die Erosion von Küsten aufhalten und die Regeneration von Küstengebieten fördern. In der Nähe von Fischfarmen und Industrieanlagen angebaut kann Seetang das Wasser filtern und gleichzeitig als erneuerbares Material geerntet werden. Dank seiner Textur wird Seetang zunehmend als umweltfreundliche Alternative zu Kunststoffen, Textilien oder lederähnlichen Materialien genutzt, die keine schädliche Verarbeitung erfordert.

Ein ganzheitlicher Ansatz, der die Gesamtheit von Ökosystemen und allen daran teilhabenden Lebewesen in den Blick nimmt, kann in Zukunft nachhaltigere Ökonomien und Lebensgemeinschaften hervorbringen. Die Ansätze im Umgang mit Seetang sind vielversprechend, doch hängt die Nachhaltigkeit im Wesentlichen von einem behutsamen Umgang bei Ernte, Verarbeitung und Nutzung ab. Es zeichnet sich ein wachsendes Bewusstsein dafür ab, dass ein grundlegender Wandel der menschlichen Haltung gegenüber Mitlebewesen und Ressourcen nötig ist. Das Überleben des Menschen ist mit dem des Seetangs und allen weiteren Bewohner:innen der Meere verbunden. Für Julia Lohmann steht die Arbeit mit Seetang sinnbildlich für einen nicht ausbeuterischen Umgang mit Natur. Somit ermöglichen ihre Werke Denkräume, die konkrete Handlungen und Haltungen in unterschiedlichen Disziplinen inspirieren können.

Julia Lohmann (*1977, Hildesheim, DE) ist eine deutsche Künstlerin, die ethische und materielle Wertesysteme hinterfragt, die unser Verhältnis zu nicht-menschlichen Lebewesen beeinflussen. Sie ist Professorin of Practice im Fachbereich Arts, Design & Architecture an der Aalto University in Helsinki (FI), wo sie heute lebt und arbeitet. Zuvor war sie Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg (DE), Project Associate Professor am Kyoto Institute of Technology (JP) und lehrte an zahlreichen Kunsthochschulen in Großbritannien, Europa und Asien. Sie erwarb ihren PhD am Royal College of Art, London (GB) mit ihrem Projekt The Department of Seaweed – Co-speculative Design in a Museum Residency, das sie 2013 am Victoria & Albert Museum, London (GB) realisierte. Sie ist Leiterin und Mitglied zahlreicher Forschungskonsortien und hat für ihre Arbeit und Forschung zahlreiche Preise gewonnen. Ihre Arbeiten sind Teil renommierter öffentlicher und privater Sammlungen und wurden unter anderem in folgenden Institutionen gezeigt: 23. Biennale of Sydney (AU), MIT Museum, Cambridge (US), Museum of Modern Art, New York (US), Cooper Hewitt Smithsonian Design Museum, New York (US), Vitra Design Museum, Weil am Rhein (DE), Centre Pompidou, Metz (FR), MAK Wien (AT), Triennale di Milano (IT) sowie an der Dutch Design Week, Eindhoven (NL), und dem World Economic Forum, Davos (CH). Sie ist außerdem Herausgeberin zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen und hat viele Vorträge gehalten.