Night Soil Trilogy

Die Erfahrung des Menschen von der Einheit mit der Natur ist eine tiefe Empfindung, die jenseits der Worte liegt. Sie greifbar zu machen gehört seit jeher zu einer der größten Bedürfnisse der Philosophie, der Religionen, der Mythen und der Kunst. Die Poesie vermag eine Sprache bereitzustellen, die das Nicht-Sichtbare beschreibbar und Geschichten erfahrbar macht. Die Arbeit Melanie Bonajos und im Besonderen die experimentelle, semifiktionale Dokumentarfilm-Trilogie Night Soil widmet sich der Frage nach der Notwendigkeit neuer ethischer Werte im Zeitalter des Anthropozän. Der schädliche Einfluss auf die Mitwelt, der Mythos des ewigen Wachstums und der Glaube an eine technologische Kontrolle über die Natur haben radikale Veränderungen des Planeten verursacht. Es gilt einen Kulturwandel zu begründen, die Frage nach einer veränderten Lebensweise zu stellen und eine Neubesinnung in der Ethik und im Menschenbild zu entwickeln, in dem das Individuum sich als Teil einer Einheit begreift und so Verantwortung für seine Mitlebewesen übernimmt.

Die Night Soil Trilogie besteht aus den drei eigenständigen Teilen Fake Paradise (2014), Economy of Love (2015) und Nocturnal Gardening (2016). Auf Basis eigener gelebter Erfahrungen dokumentiert Melanie Bonajo Gemeinschaften, die für gesellschaftliche Gegenentwürfe stehen. Dafür suchte die Künstlerin auf der ganzen Welt nach Gruppen, die liberalisierte und teils illegale Lebenspraktiken gewählt haben und versuchen, außerhalb üblicher Gesellschaftsmodelle und kapitalistischer Wertesysteme zu leben. In den Filmen porträtiert Bonajo Menschen, die nach alternativen Lebensformen und neuen Ritualen für ein verändertes Verhältnis zu Natur und Gemeinschaft sowie nach einem anderen Umgang mit Körper und gesellschaftlich definierten Geschlechterrollen suchen: liberalisierte Gemeinschaftsbildung, eine befreite Auffassung von Sexualität und Körperlichkeit, alternative Methoden der Nahrungsmittelerzeugung, nachhaltiger und sorgsamer Umgang mit der natürlichen Umwelt.

Die vor allem weiblichen Protagonistinnen gehören der Generation der Künstlerin an, die in Zeiten digitaler Vernetzung Lebensentwürfe erprobt, die Entschleunigung bedeuten und das Individuum zu einer physischen Präsenz, zu realen Gemeinschaften und einer neuen Verbundenheit mit der natürlichen Umwelt zurückführen. Night Soil ist weniger ein Plädoyer für einen eskapistischen Lebensstil, als ein sensibles Porträt von Individuen, die eine andere Haltung zur Existenz einnehmen und Einblick in ihre alternative Denkweisen und Handlungen gewähren. Die jungen Frauen stehen für ein radikal ethisches Andersdenken und eine Haltung des Widerstands gegenüber dem aktuellen Lebensstil im Zeitalter einer globalisierten, digitalisierten und vernetzten Welt.

Die Künstlerin lässt die weiblichen Protagonistinnen in den Videos zu Wort kommen und über ihre individuelle Weltanschauung sprechen. Dabei gibt Bonajo Raum für assoziative und spielerische Portraits, die die Künstlerin als ihre Interpretation versteht. Die starken, phantasievollen Bilder sind Ergebnis der künstlerischen Interpretation und behaupten eine autonome, visuelle Sprache.

Die Filme sind dokumentarisch, öffnen sich jedoch einer fiktionalen Dimension. Für die Präsentation der Arbeiten erweitert Bonajo den filmischen in den Realraum und schafft farbintensive, raumgreifende Installationen. Die Künstlerin konstruiert psychedelische Parallelwelten, die den Besucher einladen, in kontemplative Erfahrungsräume einzutauchen, in denen sie für den Moment ihres Aufenthalts neue Gemeinschaften bilden.

 

NIGHT SOIL – #1 FAKE PARADISE, 2014

Der erste Teil Fake Paradise entstand vor dem Hintergrund des Interesses der Künstlerin an dem Einfluss „alternativer Bewusstseinsstadien“ auf soziale Kontexte. Melanie Bonajo geht der Bewegung zur Legalisierung der halluzinogenen Droge Ayahuasca nach, einem psychedelisch wirkenden Pflanzensud, der von Amazonas-Ethnien in religiösen Zeremonien gebraucht wird, um sich in einen Trance-Zustand zu versetzen. So wie LSD in den 1960er Jahren die Hippie Kultur und soziale Bewegungen wie die Friedens- und die Umweltschutzbewegungen, die sexuelle Revolution, den Feminismus, die LGBT-Kultur oder aber die Techno-Utopien geprägt hat, fragt Bonajo nach der verändernden Kraft psychedelischer Erfahrungen und den davon ausgehenden Impulsen zur Entstehung von Gegenkulturen.

Ayahuasca verstärkt das Gefühl der Trance, der Auflösung des eigenen Körpers, der Verschmelzung mit der Natur und dem spirituellen Weltgeist. In allen Naturvölkern sind Praktiken der Transzendenz bekannt, die in kollektiven Riten die Einheit mit dem Natürlichen, Sinnlichen und Geistigen zelebrieren. Bewusstseinserweiternde Substanzen beeinflussten seit jeher Formen von Gemeinschaften sowie zwischenmenschliche Beziehungen und haben eine lange Tradition innerhalb physischer und mentaler Heilungsprozesse und Vorstellungen alternativer Medizin. In der rationalen westlichen Kultur sind diese existentiellen Erfahrungswelten verlorengegangen und derartige Substanzen verboten. Der Film verweist auf die Tendenz in der westlichen Kultur, in der Individuen eine Sehnsucht nach existentiellen Grenzerfahrungen zeigen, die tiefgreifende Veränderungen im Menschen bewirken.

Das Zelt erinnert an Nomadenbehausungen, in denen schamanische Rituale zelebriert werden, deren kultische und medizinische Handlungen als Vermittler zur Geisterwelt dienen und zum Wohl der Gemeinschaft vollzogen werden. Für die Ausstellung entwickelten Melanie Bonajo mit Théo Demans und Clemence Seilles einen Raum, der eine nächtliche Landschaft heraufbeschwor.

 

NIGHT SOIL – #2 ECONOMY OF LOVE, 2015

Economy of Love fragt nach dem Verhältnis zwischen Körper und Geist, Sinnlichkeit sowie spirituellen Sehnsüchten und reflektiert über das menschliche Streben, den Sinn des Lebens zu ergründen.

Der zweite Film der Trilogie zeigt eine Gruppe junger Frauen, Amateur-Sexarbeiterinnen in Brooklyn (New York), die ihre Handlung als einen Weg begreifen, in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung und von Männern dominierten Sexpraktiken und Lustvorstellungen, Macht und Einfluss zurück zu gewinnen. Ihr Handeln basiert auf dem Verständnis, dass Sexualität nicht obszön ist, sondern ein Weg zur Selbstermächtigung; eine positive, befreiende und gleichwertig geteilte Erfahrung, in der körperliche Sinnlichkeit denselben spirituellen Stellenwert hat wie die Erfüllung geistiger Leidenschaft. In Form einer liberalisierenden Utopie des Aktivismus ersucht die Gruppe die Verkörperung mythologisch-sumerischer Prostitutionsmodelle zu zitieren, bei denen die Handlungen der Tempelprostituierte einen religiösen Stellenwert hatten. Vor dem Hintergrund einer kapitalistisch geprägten Kommunikationsgesellschaft, in der Bilder von Sexualität stets verfügbar sind, streben die Frauen nach Wegen sexuelle Konventionen und die Idee von Intimität neu zu formulieren. Melanie Bonajo schafft ein lebensbejahendes, spielerisches Porträt von Frauen, die nach einer ganzheitlichen Idee von Sinnlichkeit und dem Umdenken gesellschaftlich determinierter Geschlechterrollen streben.

 

 NIGHT SOIL – #3 NOCTURNAL GARDENING, 2016

Nocturnal Gardening ist der zuletzt entstandene Film der Night Soil Trilogie. In vier Episoden zeigt Nocturnal Gardening, wie sich Gemeinschaften bilden und über das gemeinsame Ziel definieren, solidarisch sowie antikolonial und antikapitalistisch Land zu bewirtschaften und dabei den Ungleichheiten und Gefahren des Ernährungssystems für Mensch und Tier entschieden entgegenzuwirken. Die Arbeit porträtiert verschiedene Gruppen, die auf Basis alternativer Wertevorstellungen und einem holistischen wie sensiblen Verständnis von Welt, Gegenmodelle zur industriellen Lebensmittelproduktion erproben. Die Protagonistinnen entwickeln unterschiedliche selbstorganisierte Flächennutzungs- sowie Tierhaltungsmodelle und Versorgungssysteme, die außerhalb üblicher Ökonomievorstellungen existieren und auf der Idee eines nachhaltigen und bewussten Umgangs mit der Natur, der Pflanzen- und Tierwelt beruhen. Daran geknüpft verhandelt der Film die Rechte von indigenen Bevölkerungen am Landbesitz und an damit zusammenhängenden Diskriminierungen, die von der heutigen Lebensmittelindustrie praktiziert werden.

Die Rauminstallation zitierte die aztekische Mythologie der fünf Sonnen, die den verschiedenen Zeitaltern der Welt entsprechen. In jedem Zeitalter übernahm ein Gott die Funktion der Sonne. Die Herrschaft endete jeweils mit einem katastrophalen Ereignis. Die Rauminstallation stellte eine stilisierte, postapokalyptische Landschaft dar.