Raum der Initiative 19. Februar Hanau
VIDEO „EINLADUNG”
Credit: Initiative 19. Februar Hanau, Forensic Architecture/Forensis, 2022
In den Tagen und Monaten nach dem Anschlag in Hanau entwickelte sich eine vielfältige Solidarität zur Unterstützung der Angehörigen und Überlebenden. Im Mai 2020 eröffnete die Initiative 19. Februar Hanau eine Anlaufstelle am Heumarkt, direkt gegenüber dem ersten Anschlagsort. In diesem sozialen Raum wurden alsbald gemeinsam mit den Betroffenen vier zentrale Forderungen formuliert: Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen.
Im Sommer 2021 kontaktierte die Initiative 19. Februar Hanau erstmals Forensic Architecture/Forensis. Gemeinsam mit Angehörigen der Opfer und deren Anwält*innen beauftragten sie die unabhängige Ermittlungsagentur, einige wichtige, offene Fragen bezüglich der Abläufe in der Tatnacht sowie zu den Vorgehensweisen der Polizei zu untersuchen.
ZEITTAFEL KOLLEKTIVER HANDLUNGEN
Das Wandbild Zeittafel kollektiver Handlungen erzählt die Geschichte des zweijährigen Kampfes der Familien der Opfer, der Überlebenden des Anschlags sowie ihrer Verbündeten und Unterstützer*innen in der Initiative 19. Februar Hanau und anderswo um Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen.
Wenn ein Verbrechen begangen wird, sichert die Polizei in der Regel den Tatort und leitet die Ermittlungen. Das ist der Prozess staatlicher Forensik. Doch wenn staatliche Behörden oder Polizei direkt in eine Straftat verwickelt sind oder diese nicht verhindern bzw. gravierende Fehler gemacht haben, dann kann nicht mit wirklicher oder gar lückenloser Aufklärung gerechnet werden und infolgedessen auch nicht mit Gerechtigkeit gegenüber den Opfern.
In solchen Fällen ist es notwendig, dass die Zivilgesellschaft „die Kontrolle über die Beweisführung übernimmt“, unabhängige Untersuchungen durchführt und mit eigenen Mitteln und Möglichkeiten öffentlichen Druck ausübt. Diese Zeittafel zeigt, wie die Angehörigen und die Initiative 19. Februar Hanau neue Kooperationen entwickelten und ihre Forderungen in verschiedenen Foren zur Geltung brachten: in rechtlichen, politischen und kulturellen Räumen, in der Zivilgesellschaft und in den Medien.
Diese Antwort der Zivilgesellschaft – zu der auch diese Ausstellung gehört – ist ein offener, niemals vollständiger sondern sich weiter entwickelnder Prozess. Die Ausstellung zielt darauf ab, neue Öffentlichkeiten mit den Erfahrungen, dem verkörperten Wissen, dem Engagement und der Beharrlichkeit der Betroffenen rassistischer Gewalt ins Gespräch zu bringen. Den Betroffenen und ihren Unterstützer*innen in ihren Ermittlungen innovative Untersuchungsmethoden an die Hand zu geben, bezeichnen wir als „Gegen-Forensik“.
AUSSAGEN DER ANGEHÖRIGEN UND ÜBERLEBENDEN ZUR TATNACHT IN HANAU UND IHREN FOLGEN
Die Initiative 19. Februar Hanau dokumentiert in zehn Videos die Aussagen der Angehörigen und Überlebenden vor dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages.
Bereits im Sommer 2020 hatten die Familien und ihre Unterstützer*innen einen parlamentarischen Untersuchungssausschuss gefordert. Selbst wohlgesonnene Parteienvertreter*innen hatten das Vorhaben damals aufgrund zu weniger Belege für Behördenversagen skeptisch gesehen. Nach den kontinuierlichen Forderungen, dem öffentlichen Druck und den beharrlichen Protesten der Familien haben ein Jahr später, am 7. Juli 2021 in Wiesbaden alle Fraktionen außer der AfD für die Einrichtung des Untersuchungsauschuss (UNA) für Hanau gestimmt. Auch Innenminister Beuth musste seine Unterstützung zusagen.
Die zehn zentralen Fragekomplexe für den UNA wurden von der hessischen SPD in enger Absprache mit den Familien, Anwält*innen und der Initiative 19. Februar Hanau erarbeitet. Gegen den Widerstand der Regierungskoalition wurde durchgesetzt, dass die Angehörigen als Erstes gehört werden – ein Novum in der Geschichte der Untersuchungsausschüsse.
An den vier ersten öffentlichen Terminen am 3.12., 17.12., und 20.12.2021 sowie am 21.01.2022 haben (unter anderen) Vaska Zlateva, Hayrettin Saraçoğlu, Emis Gürbüz, Niculescu Păun, Etris Hashemi, Armin Kurtović, Cetin Gültekin und Serpil Temiz Unvar ihr Zeugnis abgelegt. Deren sowie die Aussagen von Valentino Juliano Kierpacz, dem Sohn von Mercedes Kierpacz und den Überlebenden Piter Minnemann und Muhammed Beyazkendir hat die Initiative 19. Februar Hanau im Mai in ihren Räumlichkeiten in der Krämerstrasse in Hanau aufgezeichnet.
Die für die Ausstellung Three Doors versammelten Aussagen ergeben ein gleichermaßen umfassendes wie erschütterndes Bild vom Versagen der Behörden und der Polizei vor, in und nach der Tatnacht des 19.02.2020 in Hanau, das hiermit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
Die Familien, Überlebenden und Unterstützer*innen sehen diese Dokumentation als einen weiteren Beitrag für ihren Kampf um Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen.
Ihr Bemühen und Engagement ist den neun Opfern gewidmet:
Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili-Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin.
Und dass niemand das Gleiche nochmal erleben soll.
Gegen das Vergessen, gegen das Verschweigen, gegen die Angst.
Erinnern heißt verändern.
Initiative 19. Februar Hanau
In den Videos sprechen:
Muhammed Beyazkendir, Çetin Gültekin, Emiş Gürbüz, Etris Hashemi, Valentino Juliano und Sofia Kierpacz, Armin Kurtović, Piter Minnemann, Niculescu Păun, Hayrettin Saraçoğlu, Serpil Temiz Unvar, Vaska Zlateva.
Realisation
Initiative 19. Februar Hanau
Produziert durch die Initiative 19. Februar Hanau, deren Freund*innen und den Frankfurter Kunstverein
SCHLICHT STILLE
Das Notruf-Desaster von Hanau
Vili-Viorel Păun ist das einzige, nicht zufällige Opfer von Hanau. Er verlor sein Leben, weil er in einem besonderen Akt der Zivilcourage versuchte, den rassistischen Mörder zu stoppen. Vili verhinderte wahrscheinlich mit seinem Einsatz weitere geplante Morde am ersten Tatort, weil er die Verfolgung aufnahm und die Pläne des Täter durchkreuzte. Er selbst hätte überleben können – wenn die Polizei über 110 für ihn erreichbar gewesen wäre.
Das Video-Triptychon erzählt die Geschichte von Vili und vom Notrufversagen in der Tatnacht. Sein Auto war vom Täter am Heumarkt beschossen worden, Vili nahm daraufhin die Verfolgung auf. Er fuhr dem Täter hinterher, blockierte kurzfristig dessen Auto und versuchte immer wieder, über den Notruf die Polizei zu alarmieren. Aber er kam nicht durch. Drei Mal blieb die 110 für ihn unerreichbar. Auf dem Parkplatz vor der Arena Bar, dem zweiten Tatort, wurde Vili-Viorel Păun in seinem Auto vom Täter erschossen.
Wie sich erst später durch Ermittlungen der Angehörigen und der Initiative 19. Februar herausstellte, war der Hanauer Notruf nicht mit einer Ruf-Weiterleitung ausgestattet sowie personell unterbesetzt. Auch andere Anrufer kamen in dieser Nacht nicht zur 110 durch, die Leitung blieb – wie die Staatsanwaltschaft feststellte – „schlicht still“.
Die Videos zeigen die Abläufe in der Tatnacht und rekonstruieren das Versagen des polizeilichen Notrufs. Gleichzeitig wird der lange Kampf von Niculescu und Iulia Păun, den Eltern des Opfers, um eine Aufklärung der Geschehnisse sowie um eine Anerkennung des Verschuldens der Behörden nachgezeichnet.
Credits: Katharina Pelosi, Pola Sell, Marcin Wierzchowski