Agnese Galiotto
Miracoli (Wunder), 2021
Glas- und Wandmalerei
1400 x 330 cm
Video, 14:40 min
Courtesy die Künstlerin
Agnese Galiotto ist Filmemacherin und Malerin. Für die Ausstellung im Frankfurter Kunstverein hat sie den neuen Film Miracoli produziert, der die innere und äußere Welt Claudias zeichnet. Claudia lebt in der norditalienischen Region Venetien. In der Berglandschaft ihres Heimatorts Chiampo hat ein Mönch und Bildhauer in den 1930er-Jahren die originalgetreue Reproduktion der Grotte und der Marienstatue von Lourdes erschaffen. Ein starker katholischer Glaube und die Verehrung der Madonna prägen die Kultur der Region bis heute zutiefst, ebenso wie das Frauenbild und die Auffassung von Familie als Aufgabe der Selbstaufopferung. Zu Beginn des Filmes stellt die Stimme aus dem Off, die die Stimme der Künstlerin ist, die Verbindung zwischen der originalen Grotte in Lourdes und der Nachbildung in Chiampo vor, die eng mit ihrer eigenen Familiengeschichte verknüpft ist.
Claudia ist die Mutter der Künstlerin. Wie in vorangegangenen Arbeiten setzt sie sich mit Menschen aus ihrem engsten Umfeld auseinander, behält dabei aber immer einen beobachtend neutralen Blick bei. Claudias Geschichte ist geprägt von der Verantwortung, die sie bereits im frühesten Alter für ihren Bruder übernehmen musste. Dieser wurde mit einer Behinderung geboren, für die die Eltern immer wieder um Heilung bei der Madonna in zahlreichen Pilgerreisen beteten und Wallfahrten nach Lourdes machten. Die Verbindung zwischen ihrem Dorf und dem französischen Pilgerort bestimmt die Identität der Familie so wie die der gesamten Region.
Wir sehen Claudia heute, als erwachsene Frau, wie sie in einer winterlichen Landschaft trainiert. Der Radmarathon, bei dem Fahrer*innen über mehrere Tage fast ununterbrochen bis an den Rand der körperlichen Grenze unterwegs sind, ist in den letzten Jahren für sie zu einem essentiellen Teil ihres Lebens geworden. Im Film hören wir Claudias Stimme, die in Andeutungen über ihre Jugend erzählt und was ihre enge Verbundenheit zu ihrem Bruder für ihre eigene Identität ausmachte. Die Bilder des Films verorten die Stimme in einer menschenleeren, weiten und stillen Berglandschaft, in der Claudia bei Tag, bei Nacht oder zum Sonnenaufgang alleine, nur mit ihrem Fahrrad, der Natur begegnet. Die Künstlerin richtet ihren zurückhaltenden und beobachtenden Blick auf die körperliche Ausdauer und mentale Konzentriertheit von Claudia. Tagelang hat sie deren einsames Fahren in der Abgeschiedenheit und Stille der Berge mit der Kamera begleitet. Es gelingt ihr eine dichte und konzentrierte Stimmung durch die Bilder zu schaffen. Die Protagonistin ist Teil einer Landschaft, die verschlossen und hart in ihrer winterlichen Kargheit abgebildet ist. Claudia bewegt sich allein in der Natur, eine Erfahrung, durch die sie sich selber wieder spüren gelernt hat. Der Film schafft die Überwindung der biografischen Begebenheit und zeichnet die archetypische Figur eines Menschen, der in der Weite und Stille der Natur sich selbst begegnet.
Viel gibt die Künstlerin über die familiären Hintergründe nicht preis. Doch erahnen wir anhand der knappen, und nur in Andeutungen gezeichneten Darstellungen der beiden Stimmen, die eigene und die ihrer Mutter, wie stark gesellschaftliche Erwartungen eine Biografie bestimmen und wieviel Überwindung es kostet, sich Freiraum zu schaffen. Der Film zeichnet mit zarten Farben und wenigen Gesten die Geschichte einer Transformation.
Den Bildraum des Films erweitert Agnese Galiotto in den realen Raum, indem sie die winterlichen Baumsilhouetten und bläulichen Farben des Films auf die Fenster und Wand des Frankfurter Kunstvereins übersetzt. Sonnenlicht dringt durch die gemalten Äste wie durch die Wälder und die Natur in ihrem Film, die kurz vor der Transformation zum Erwachen des Frühlings steht. Es ist diese Transparenz, die die Künstlerin sucht und die es ihr ermöglicht, durch die Malerei noch die Welt dahinter klar erkennbar zu lassen. Als ausgebildete Malerin in der Freskentechnik hat Galiotto zum ersten Mal die Herausforderung der Glasmalerei bewältigt. Um die wasserartige Farbigkeit und die lichtdurchlässige Transparenz mit zartem Farbauftrag zu erzielen, hat sie zusammen mit traditionellen Pigmentherstellern aus Italien aufwendig ein spezifisches Farbmaterial entwickelt. Agnese Galiotto setzt mit ihrer Malerei bewusst zarte Interventionen, sie überdeckt nichts, sondern schafft eine zusätzliche Ebene und verändert somit die Betrachtung. Dies gelingt ihr sowohl in ihrer malerischen als auch in ihrer filmischen Arbeit. Wie bereits in vorangegangenen Filmen beobachtet Agnese Galiotto ihr nahestehende Menschen auf der Suche danach, wer sie sind und woher sie kommen.
Agnese Galiotto (*1996, Chiampo, IT) lebt und arbeitet als Malerin und Filmemacherin in Frankfurt am Main (DE) und Chiampo (IT). Seit 2018 studiert sie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt am Main (DE) bei Prof. Willem de Rooij. Zuvor schloss sie ihr Bachelorstudium der Malerei an der Accademia di Belle Arti di Brera in Mailand (IT) ab. Dort erlernte sie die Technik der Freskomalerei. Seit 2020 nimmt sie am Residency Programm Dolomiti contemporanee (IT) teil und ist Jahresstipendiatin der Künstlerhilfe Frankfurt (DE). Agnese Galiotto hat unter anderem in folgenden Institutionen ausgestellt: Palmengarten Frankfurt, Frankfurt am Main (DE), MediumP. An honest institution, Frankfurt am Main (DE), Jo-Anne, Frankfurt am Main (DE), BFI Southbank, London (GB), Palazzo Mandelli, Arena Po (IT).