Gintarė Sokelytė

Selfnoid, 2021
Video- und Rauminstallation

4:3 Video, Sounddusche, 13:04 min

Skulpturenserie
Stahl, Metall, Hasendraht, Draht, Glaswolle, Gips, Eisenoxid, Metallfaser, Tiefengrund, Acryl, Schellack, Tönungskonzentrat
Größe variabel

Courtesy die Künstlerin

Gintarė Sokelytė zeichnet, malt, ist aber auch Bildhauerin und Filmemacherin. Für die raumgreifende Installation, die sie für die Ausstellung And This is Us 2021 – Junge Kunst aus Frankfurt entwickelt hat, präsentiert sie eine Drei-Kanal-Filmarbeit und elf Skulpturen.

Der Körper ist Ausgangspunkt ihrer Untersuchung. Die Physis des Menschen ist für die Künstlerin der Schlüssel zur Wahrnehmung von Welt. Der Leib ist gleichzeitig das Instrument, durch das das Selbst die Welt und seine eigene Existenz erfährt und die Verbindungsfläche zu Seele und Emotionen.

Die Handlung des Films ist in einen dunklen, bühnenartigen Raum gesetzt, in dem sich zwei weibliche Figuren zueinander verhalten. Sie bleiben durch eine Glaswand getrennt, durch die sie sich beobachten. Die eine ist schwarz gekleidet, sie sitzt still und ihr Blick geht ins Leere. Die zweite Frau trägt Weiß und durchschreitet in ständiger Unrast den Raum. Erst nach längerem Hinsehen verrät die kontrollierte, immer gleiche Position und reduzierte Mimik der ersten Frau, dass es sich um einen humanoiden Roboter mit Künstlicher Intelligenz handelt. Sie sitzt regungslos und ihr Körper verrät nicht den Zustand ihrer mentalen Prozesse oder Emotionen. Die Bewegungen der jungen Frau in Weiß hingegen sind hastig und raumgreifend, sie befreit sich der Kleider und verbiegt ihren Körper bis aufs äußerste. Zuerst mit einer Videokamera, dann mit einem Spiegel versucht sie immer wieder ihren eigenen Körper zu erfassen und durch die Glaswand, trotz Unerreichbarkeit, die Frau in Schwarz zu erkunden.

Der humanoide Roboter stammt aus dem unmittelbaren Freundeskreis der Künstlerin. Er wurde von einem Freund als Künstliche Intelligenz mit menschlichem Leib, mit Mimik und Gestik, konstruiert. Der Programmierer verbrachte eine Zeit mit der Figur, bis er dem Effekt des Uncanny Valley, der artifiziellen Paradoxie nicht mehr Stand hielt. Gintarė Sokelytė übernahm die Figur und machte aus ihr eine der beiden Protagonistinnen ihres Films. Diese Figur ist der Counterpart der jungen Frau. Während diese Zerrissenheit und Unrast ausagiert, bleibt die Androidin ruhig und scheinbar emotionslos.

Die Handlungen im Film werden von einem kaum wahrnehmbaren ständigen Rauschen untermalt. Die Anordnung der drei Leinwände im Raum verhält sich zu der Enge der Handlungsbühne im Film. Es entsteht ein Raum im Raum, in dem sich die Besucher*innen ebenfalls in eine auslotende Bewegung begeben müssen, wie die junge Frau in Weiß.

Durch die Zwischenräume der Leinwände entstehen Blickachsen zu elf Plastiken an der Wand. In menschlicher Größe und ohne Schädel zeigen sie ihre offenen Formen in Posen der Überdehnung. Elf weiße Figuren, deren Skelett die Künstlerin mit Armierungseisen geschweißt, mit Draht verkleidet und durch Auftrag von in Gips getränkter Glasfaser zu brüchiger Fleischlichkeit geformt hat. Ein Stein am Boden, mit Säuren in seiner rostigen Oberfläche verändert, liegt kopfähnlich am Boden.

Die Frage nach der Sichtbarkeit geistiger Zustände auf körperlicher Materie zieht sich wie ein Faden durch Film und Skulptur Sokelytės. Fotografien und Bilder an der Wand hinter der jungen Frau in Weiß, fast unbemerkt platziert, demonstrieren das ganze Repertoire körperlicher Spannung im Akt extremer Verformungen. Es sind diese Bilder, die der Künstlerin bei der Schaffung der plastischen Figuren als Vorlage dienten; Bilder von Athlet*innen in extremer Pose, Körper in krampfartiger Verformung, Gemälde von Menschen in Extase. Sokelytės zentrales Motiv ist die Frage nach dem Körper als Instrument der Wahrnehmung von Welt, der inneren und der äußeren. Die Formen der präsentierten Körper in ihren Überdehnungen und Spreizungen öffnen Assoziationen, die von der Möglichkeit eines Ausagierens der Lust bis hin zum Ausdruck der Qual reichen.

Gintarė Sokelytė (*1986, Kėdainiai, LT) lebt und arbeitet in Vilnius (LT) und Frankfurt am Main (DE). Sie arbeitet mit unterschiedlichen Medien und realisiert Videoarbeiten, ortsspezifische Malereien, skulpturale Objekte. Seit 2016 studiert sie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt am Main (DE). Zuvor absolvierte sie ihr Bachelorstudium von 2005 bis 2009 in Siebdruck an der Vilnius Gediminias Technical University (LT). 2008 verbrachte sie ein Auslandssemester an der Odense University of Southern Denmark (DK). Unter anderem hat Gintarė Sokelytė in folgenden Institutionen ausgestellt: Osthang, Darmstadt (DE), Palais de Tokyo, Paris (FR), Montos tattoo art space, Vilnius (LT).