Sonja Yakovleva, State of Strike
State of Strike, 2024
Papierschnitt und Zeichnung, Fotokarton, Bleistift und Buntstift
10,65 x 2,71 m
Courtesy die Künstlerin
In den neuen Werken Sonja Yakovlevas, die für diese Ausstellung geschaffen wurden, ist das übergeordnete Motiv die Darstellung einer abstrakten Macht, die Körper reguliert und die in den Körpern eingeschrieben ist.
In State of Strike ist die Stadt selbst ein Körper, dessen vitale Funktionen von unterschiedlichen Organen aufrecht erhalten werden. Das Blut in dessen Adern sind die Arbeiterinnen und Arbeiter, die den lebendigen Organismus versorgen. Diese Menschen stellt Sonja Yakovleva dicht an dicht gedrängt in den Straßen dar. Sie streiken. Sie setzen ihre Körper im öffentlichen Raum ein. Aber auch die Schweine aus der industriellen Mast werden befreit und verweigern die Ausbeutung ihrer Körper.
Yakovleva hat eine über 10,5 Meter lange Wandarbeit geschaffen. Zu sehen ist eine Stadt, in der Onlineversandhandel, Fleischindustrie, Lieferdienste, Kitas, Krankenhäuser, Baustellen, Gebäudereinigung und Gastronomie auf engstem Raum verdichtet wurden. In ihre Komposition fügt Yakovleva gezielt auch wiedererkennbare Frankfurter Gebäude ein – die Alte Oper, den Hauptbahnhof, Pufffassaden und die Sudfass-Beine. Die Motive hat die Künstlerin zum Teil in Frankfurt fotografiert, andere stammen von Stockfotoanbietern oder Instagram. In der Bildkomposition werden verschiedene Orte der postindustriellen Stadt, die sonst an den Rand gedrängt oder unsichtbar gemacht werden, ins Zentrum gerückt.
Die Stadt wird hier als Symbol der Moderne und der Gesellschaft dargestellt. Alle Gebäude stehen für unterschiedliche Produktionsstätten. Ein dichter Strom an Körpern streikt. Yakovleva treiben die Widersprüche einer zunehmend flexibilisierten und von Unsicherheit gezeichneten Arbeitswelt um. Menschen, vor allem Personen mit migrantischer Geschichte, sind oft dazu gezwungen schwierige Arbeitsverhältnisse anzunehmen, die von schlechten Arbeitsbedingungen bestimmt sind. In ihrer Darstellung zeigt Sonja Yakovleva die Stadt der Lieferfahrer:innen, Leiharbeiter:innen, Reinigungskräfte und Fleischindustriearbeiter:innen. Was wäre, wenn nicht nur die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, sondern auch sie die Arbeit niederlegen würden? Würde alles ins Stocken geraten? Wer sind all die Menschen, die das pulsierende System der Stadt und eines Staates im Fluss halten? Yakovleva betrachtet intensiv migrantische Arbeiter:innen und lässt sie in ihrem Wandbild die Straßen der Stadt mit ihren Körpern bevölkern. Die Künstlerin bezieht auch Tiere in den Streik ein, denn auch sie haben die Selbstbestimmtheit über ihre Körper verloren.
Yakovleva gelingt es durch ihren thematischen Fokus auf den migrantischen Streik prekär beschäftigter Arbeiter:innen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Körper und Politik auf doppelte Weise zu stellen: Wie werden zum einen die Körper der Arbeiter:innen in den prekären Arbeitsverhältnissen der heutigen Zeit kontrolliert und ausgebeutet? Und wie können diese Körper zum anderen aber auch in einem Streik zu einer neuen Kraft werden, die sich gegen eben diese Kontrolle und Ausbeutung stellt? Im Streik werden Forderungen nach Solidarität und neuen Formen der gesellschaftlichen Organisierung durch die protestierenden Körper auf die Straße gebracht.
Montage und Kollage, das Sammeln und Zusammensetzen bestimmen Yakovlevas Arbeitsprozess. Für Deutschland sind 2023 und 2024 die Jahre landesweiter Streikwellen. Nicht nur für höhere Löhne, sondern auch für die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen. Für State of Strike sind vielfältige Elemente in das monumentale Wandbild eingeflossen: Nachforschungen in historischen Quellen und Literatur über migrantische Streiks in den 1970er Jahren und die Arbeitsbedingungen prekärer Beschäftigter seit der Nachkriegszeit, Interviews mit Arbeitenden im Onlineversandhandel, die Veröffentlichung des investigativen Kollektivs „Correctiv“ Anfang 2024 und die Remigrationspläne der rechten Netzwerke. In der hieran anschließenden gesellschaftlichen Mobilisierung gegen Rassismus dachte Yakovleva über einen migrantischen Streik als Protestmittel gegen rassistische Tendenzen in der Gesellschaft nach. Aus ihrer eigenen Erfahrungswelt filterte sie in den Recherchen Szenen und Geschichten heraus, Widersprüche und Muster, die sie in die Themenfelder zu Arbeit und Streik einarbeitet. Yakovleva imaginiert den Streik der Migrant:innen, der Arbeiter:innen, die einen Großteil der arbeitenden Klasse darstellen und setzt dem schnelllebigen medialen Informationsfluss ihr monumentales Kunstwerk entgegen.
Für diese neue Wandarbeit zitiert Yakovleva die Bildsprache verschiedener Formen der Propagandakunst: die Agit-Prop der 1920er in Sowjetrussland, die Murales (Wandgemälde) des mexikanischen Diego Rivera bis hin zur Streetart. Sie bedient sich der isometrischen Perspektive, in der das Bild keinen einzelnen Fluchtpunkt besitzt und in dem Bauteilkanten verkürzt gezeichnet werden. Sonja Yakovleva collagiert und verdichtet, zeigt verschiedene Szenen in ihrer Gleichzeitigkeit, nutzt geometrische Formen und die Signalwirkung der Farben – schwarz, weiß, rot.
Zum ersten Mal verbindet die Künstlerin die für sie typische Technik des Scherenschnitts mit der Zeichnung. In Yakovlevas Praxis ist die Zeichnung zwar der zentrale Ausgangspunkt für Konstruktion und Bildaufbau, doch sie geht im Akt des Schnitts verloren. Dabei entstehen ihre Bilder als Zeichnungen, die die Künstlerin mithilfe der Rasterübertragung skaliert und auf ein im Maßstab größeres Papier überträgt. In State of Strike sehen wir Yakovlevas malerische Fähigkeit, die Beherrschung von Linien, Formen und Schattierungen, ihre Fähigkeit die Welt um sich herum zu beobachten und wiederzugeben, ihre Experimentierfreudigkeit und ihr handwerkliches Geschick. Sonja Yakovlevas Zeichnungen und Scherenschnitte leben von der Verflachung der Motive und von der bühnenartigen Perspektive. Ihr Stil kann mit dem Phänomen des Superflat in Zusammenhang gebracht werden, einem Kunststil, der in der Malerei der Postmoderne auf die Konsumkultur reagiert.
Yakovleva sagt über ihre Wahl des Scherenschnittes, dass ihr die Querbezüge der geschichtlichen Entstehung zusagen. Ab dem 17. Jahrhundert wurde der Scherenschnitt in Europa als zeit- und kostengünstiger Ersatz für das Porträtgemälde bekannt. Malerei war der Aristokratie vorbehalten. Die niederen Schichten konnten Silhouetten aus der Kontur eines Profils fertigen lassen, welche von Straßenkünstler:innen angeboten wurden.
In ihrer Arbeit State of Strike vereint Sonja Yakovleva also Referenzen einer künstlerischen Technik mit gesellschaftspolitischen Fragen – nach der Möglichkeit eines Streiks, durch den diese Unsichtbarkeit all der prekären, häufig migrantischen Arbeitsfelder sichtbar wird. Im Streik ist eine Solidarität unter den Arbeiter:innen gegeben, die Kraft für den Aufbau alternativer Lebens- und Arbeitsweisen schafft. In der Bewegung auf der Straße werden diejenigen Körper sichtbar, die sonst arbeiten, ausliefern, einpacken, transportieren oder spülen. Sie werden zu widerständigen Körpern, die ihre physische Kraft der Verwertung entziehen und stattdessen im Kollektiv bündeln, um gegen ihre Ausbeutung zu protestieren und Veränderungen zu bewirken.