Up Next, 2023
Videoinstallation, erhöhter Boden wie in Rechenzentren
24:04 Min.
Courtesy die Künstler:innen und Apalazzo Gallery
Als Premiere zeigt der Frankfurter Kunstverein Eva und Franco Mattes‘ neue Videoarbeit Up Next. Diese thematisiert das Schicksal von Fatemeh Khishvand (*2001, Teheran, Iran), die auf Instagram als Sahar Tabar bekannt wurde. Ihre Geschichte wurde zu einem Phänomen der Internetkultur.
Der Fall von Fatemeh Khishvand berührt viele Themen, mit denen sich Eva & Franco Mattes in ihrer Arbeit beschäftigen: Sichtbarkeit, Fehlinformationen, Bildverbreitung, Meme-Kultur, Viralität, Ausbeutung und Manipulation.
Seit 2019 hat das Künstler:innenduo den Fall der iranischen Social Media-Berühmtheit verfolgt und tausende Fotos und Artikel archiviert. Für die Video-Slideshow, die gänzlich ohne Ton konzipiert wurde, haben die Künstler:innen hundert Bilder ausgewählt: Selfie-Fotos von Tabar wechseln sich mit nicht belegten Zitaten aus Artikeln über die Bloggerin ab – hauptsächlich Clickbait-Artikel, die über die Jahre vorwiegend abfällige, widersprüchliche und teilweise falsche Informationen über die Instagrammerin gestreut haben.
Zwischen den einzelnen Bildern fügt das Künstler:innenduo Schwarzbilder, leere Pausen, ein, die den Betrachter:innen Zeit geben sollen, über die Wahrhaftigkeit des Gesehenen nachzudenken. Dieses stilistische Mittel bricht mit der Schnelligkeit des auf Instagram herrschenden Modus für die zeitliche Begrenzung von Stories und Reels. Diese dürfen die maximale Dauer von 15 bzw. 90 Sekunden nicht überschreiten und folgen pausenlos aneinander. Das Ganze gehört zu einer Strategie, die den sozialen Medien inne liegt. Sie wurde dahingehend entwickelt, neuronale Reaktionen zu erzeugen, die denjenigen einer Abhängigkeit gleichen, was durch den ständigen Fluss neuer Bild-Stimuli ausgelöst wird. Das Phänomen ist Teil der Aufmerksamkeitsökonomie, die in der Social Media-Welt herrscht und hat unsere Sehgewohnheit nachhaltig verändert.
Zu Hochphasen folgten dem Instagram Profil Tabars bis zu 486.000 Menschen. Sie veröffentlichte dort Selfies, die sie mit übertriebenen Lippen und spitzer Stupsnase, fahler Hautfarbe, bunt gefärbten Haaren, Augenringen und sehr dünnen Armen und Beinen zeigten. Die daraus resultierende Ästhetik eröffnete Ähnlichkeiten zu Kostümierungen, Zombies oder Animationsfiguren wie zum Beispiel Tim Burtons Corpse Bride – Hochzeit mit einer Leiche (2005).
Auch wenn die Bloggerin diese Ästhetik hauptsächlich durch Make-Up, Photoshop und Filter simulierte, wurden ihr von der Clickbait-Presse und Internetöffentlichkeit ein Aufspritzen der Lippen, Fettabsaugungen und Rhinoplastik unterstellt. Es entstand eine Welle der Entrüstung und der Skandalisierung. Die Mutmaßungen wurden durch die Nennung zweifelhafter Quellen gestützt.
Viel Aufmerksamkeit bekam Tabars Profil insbesondere, als die Online-Klatschseiten auf ihre Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Angelina Jolie hinwiesen und ihr den Spitznamen „Zombie-Angelina Jolie“ gaben. Sie behaupteten sogar, dass sie sich bis zu 50 medizinischen Eingriffen unterzog, um wie die Schauspielerin auszusehen. Dies war nur eine der vielen verwirrenden Aussagen, die die Online-Boulevardzeitungen posteten und die viral gingen.
Viele der Medien, die über den Fall berichteten, stellten nie in Frage, ob es sich um eine Parodie und somit um eine mediale Falschmeldung handeln könnte. Die Tabloid Öffentlichkeit diskutierte nicht die Plausibilität des Falles selbst, sondern empörte sich über die junge Frau. Es war genau diese Empörung, Überraschung und unkritische Haltung des Online-Publikums, die Tabar zu einem weltweiten Phänomen machten.
Was an diesem Fall sinnbildhaft abzulesen ist, ist die Macht von Missinterpretationen und Fake News als Treibstoff einer Online-Ökonomie der Aufregung und Skandalisierung. Tabar selbst deklarierte ihre Auftritte als Online-Selfie-Performance in der Tradition einer Cindy Sherman.
Inszenierungen von fiktiven Identitäten sind in der Kunst ein wiederkehrendes Element: Cindy Sherman nimmt in ihren Arbeiten zwischen den 1970er bis in die frühen 2000er Jahre die Erscheinung meist weiblicher Figuren ein, indem sie Kleidung, Frisuren und unterschiedliche Bildkontexte arrangiert. Auf ihrem aktuellen Instagram Account postet sie Selbstportraits, die durch heutige Filter die Veränderungen des Realen auf die Spitze treiben. Auch jüngere Künstler:innen, zum Beispiel Amalia Ullman, haben auf Instagram fiktive Identitäten erfunden und ein Online-Publikum gleichermaßen verwirrt und unterhalten.
Historisch hat das Spiel mit Pseudonymen eine lange Tradition: Künstler:innen wie Marcel Duchamps, dessen Alter Ego Rrose Sélavy hieß, Lynn Hershman Leesons mit zahlreichen fiktiven Persönlichkeiten und auch Eva & Franco Mattes im Jahr 1998 mit dem erfundenen Künstler Darko Maver. Sein fiktives Leben und seine Werke verbreiteten sich in den Medien und in der Kunstwelt. Mavers Karriere fand 1999 mit seiner Einladung zur 48. Biennale von Venedig ihren medialen Höhepunkt. Später erklärte das Künstler:innenduo öffentlich, dass sowohl Mavers Leben als auch seine Werke nicht real seien.
Inszenierungen entwickelten sich in ihrer modernen und zeitgenössischen Form zu kollektiven Online-Performances, an denen jeden Tag auf Instagram Millionen von Menschen teilnehmen: in Form von Fotos und Reels, Stories und Selfies, Make-Up Tutorials und Outfits of the Day.
Das mediale Phänomen um die Figur der Tabar führte zu einer dramatischen realen Wendung. Am 22. Oktober 2019 berichtete die iranische Nachrichtenagentur Tasmin, dass Fatemeh Khishwand in Teheran unter dem Vorwurf der „Blasphemie, der Anstiftung zur Gewalt, des illegalen Erwerbs von Eigentum, der Verletzung der nationalen Kleiderordnung und der Ermutigung junger Menschen zur Korruption“ offiziell angeklagt und verhaftet wurde.
Dies ist kein Einzelfall. Ab 2016 wurden zunehmend Influencerinnen aufgrund ihrer Online-Aktivität festgenommen.
Zum Zeitpunkt von Khishwands Festnahme war im Iran Instagram noch eine erlaubte Social Media-Plattform. Twitter und Facebook waren staatlich bereits gesperrt. Anonymität und Meinungsfreiheit waren aber auch auf Instagram nicht gesichert. Vor dem aktuellen Hintergrund in Iran und den Protesten für Frauenrechte, gewinnt die Geschichte von Tabar bezüglich der Bedeutung von Social-Media-Kanälen an Gewicht. Diese spielen seit dem Arabischen Frühling eine zentrale Rolle für den zivilen Ungehorsam, die Vernetzung von Demonstrant:innen und die Verbreitung von unabhängigen Nachrichten.
Seit 2011 bieten die sozialen Medien die Möglichkeit einer Open Source-Untersuchung, die Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und öffentlich anprangern soll. In autokratischen Staaten werden diese Untersuchungen überwacht, beschränkt oder gesperrt. Gleichzeitig hat die iranische Regierung verstanden, wie sie die sozialen Medien zu ihrem Vorteil nutzen kann: sie wurden vom Instrument der Information zum Instrument der Desinformation, für Kontrolle und Überwachung, für politische Zwecke und zur Einschränkung der Freiheit. Das Instagram-Konto von Sahar Tabar wurde zum Zeitpunkt der Verhaftung gelöscht. Ihre online Persona bleibt zwar sichtbar, jedoch wird sie von den zahlreichen Fake News und Fake Profilen überlagert und somit unkenntlich gemacht.
Warum greifen Eva & Franco Mattes dieses Phänomen auf? Das Künstler:innenduo stellt immer wieder die übergeordneten Fragen nach der Wahrhaftigkeit von Bildern und Informationen, der Inszenierung und der Ambivalenz, die in der digitalen Sphäre herrschen. Das übergeordnete Thema ist das der Manipulation der Identität im Netz und die Rückkopplung dieser Fakes auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Digitale und analoge Kommunikation bildet heute eine untrennbar miteinander verwoben Einheit.