Walter R. Tschinkel

Sechs Ameisenbauten der Arten Camponotus socius, Pogonomyrmex badius, Trachymyrmex septentrionalis, Formica Dolosa, Pheidole morrisi, Cyphomyrmex rimosus
Zinnguss
Verschiedene Größen
Courtesy Walter R. Tschinkel

Walter R. Tschinkel ist ein US-amerikanischer Biologe, der zur Soziobiologie und Verhaltensökologie sozialer Insekten, insbesondere Ameisen, forscht. Tschinkels jahrzehntelange Arbeit hat dazu beigetragen, die Lebensweise von Ameisen umfassender zu verstehen. In besonderem Maße hat er sich ihrer Nesterarchitektur gewidmet. Seine Studien zeigen, wie Ameisen die Temperatur und Feuchtigkeit in ihren Nestern regulieren. In der Ausstellung sind sechs Objekte aus Walter R. Tschinkels Sammlung zu sehen, die der Wissenschaftler für Forschungseinrichtungen geschaffen hat. Es handelt sich um Aluminium- und Zinnabgüsse von sechs unterirdischen Nestern. Jedes wurde von einer anderen Population gebaut, die alle in demselben 30 ha großen Lebensraum in den Sandhügeln der Kiefernwälder an der Küstenebene Nordfloridas leben. Insgesamt gibt es in diesem Landstrich bis zu 50 verschiedene Ameisenarten in hunderten Populationen.

Walter Tschinkel interessiert sich für diesen speziellen Raum, den er „das Ameisenparadies“ nennt, weil er hier Biodiversität sichtbar machen kann. Auf diesem begrenzten Areal haben Ameisen ganz unterschiedliche Merkmale und Fähigkeiten entwickelt. So hat sich die Riesenameise Florida-Harvester auf Pflanzensamen spezialisiert und sich einen ganz anderen Lebensraum geschaffen als die winzige Pheidole adrianoi, die ihre Nestkammern mit Pilzen auskleidet. Nachtaktive Arten können mit tagaktiven Ameisen koexistieren. Sie haben sich auf unterschiedliche Nahrung spezialisiert: Die einen sammeln Raupenkot, andere getrocknete Insektenteile, um ihre Pilzgärten zu ernähren. Die Körpergröße der Arbeiterinnen weicht um das bis zu Hundertfache voneinander ab, ebenso die Koloniengröße, und entsprechend unterschiedlich bauen sie ihre Nestarchitekturen.

Die verschiedenen Arten nutzen denselben Lebensraum und passen sich so vielfältig an, dass sie in einer erweiterten Gemeinschaft miteinander leben können.

Die Auswahl der Abgüsse in der Ausstellung zeigt, wie die Natur Vielfalt schafft und was genau Vielfalt ist. Auf den ersten Blick sehen die Architekturen unterschiedlich aus, doch Tschinkel stellt fest, dass nestbauende Ameisen individuelle Abwandlungen des gleichen Grundplans schaffen. Diese Grundstruktur – ein vertikaler Schacht mit einer oder mehreren untereinander verbundenen horizontalen Kammern – geht zurück auf die Jagdvespe, aus der sich Ameisen entwickelt haben.

Fast alle modernen Ameisennester folgen diesem Ur-Muster. Die Vielfalt ergibt sich aus vielen kleinen Veränderungen eines Grundmusters.

Für Ökosysteme sind Ameisen als sehr anpassungsfähige Wesen, deren Populationen über kollektive Intelligenz funktionieren, unerlässlich. Sie lockern Böden auf, tragen zur Humusbildung bei, entsorgen abgestorbene Organismen und Parasiten, verteilen Samen und kultivieren Pilzarten in symbiotischer Fürsorge. Zunehmend interessieren sich Wissenschaftler:innen für Ameisen auch wegen ihres biochemischen Bakterienfilms, der sie vor Krankheiten und Pilzbefall schützt. Sie sind wahre Meister der Verwertung und der Logistik.

Immer wieder präsentiert der Frankfurter Kunstverein in seinen Ausstellungen wissenschaftliche Präparate und Kunstwerke in gemeinsamen Räumen. Sowohl Kunst als auch Wissenschaft können Erkenntnisse und Ideen durch materielle Manifestationen sinnlich erfahrbar machen. Durch Sichtbarmachung entsteht Ersichtlichkeit.

Die Hohlraumabgüsse von Tschinkel schaffen eine besondere Brücke zwischen wissenschaftlichem Exponat und skulpturalem Objekt. Sie verdichten Erkenntnisse, die auf langjähriger Beobachtung und Wissenssammlung beruhen. Tschinkel betrachtet Ameisen nicht allein als Objekte wissenschaftlichen Interesses, sondern als Mitbewohnerinnen und Mitgestalterinnen einer gemeinsamen Welt. In der Ausstellung fungieren die Nestabgüsse als Erkenntnisobjekte und gleichzeitig als Materie gewordene Spur der komplexen Lebensprozesse von Wesen, deren Existenz auf dem Planeten seit Millionen von Jahren besteht.

INFORMATIONEN ZU DEN EINZELNEN AMEISENARTEN

CAMPONOTUS SOCIUS
Dies ist die größte Ameisenart in Tschinkels Areal. Beim Ausheben ihrer Nester verstreuen die Ameisen die ausgehobene Erde in einem fächerartigen Muster, sodass ihre Nestöffnungen an der Basis von Grasbüscheln leicht zu entdecken sind. Die Nester können zwischen bis zu 30 cm oder über einen Meter tief sein, sind aber immer sehr stabil. Die Kolonien haben eine einzige Königin. Sie bewohnen im Sommer bis zu 15 Nester. Gegen Ende der Saison geben sie alle bis auf eines oder zwei auf, um zu überwintern. Die Arbeiterinnen suchen meist einzeln nach Honigtau von Blattläusen und Schildläusen und bringen diese Flüssigkeit ins Nest. Wie andere Camponotus verpuppen sich die Larven in einem seidenen Kokon, den sie selbst spinnen.

POGONOMYRMEX BADIUS
Eine der größeren Ameisenarten, die in den trockenen, sandigen Böden der Küstenebenen von North Carolina bis Mississippi lebt. Die Nestkammern sind auffällig, weil die ältesten Arbeiterinnen in der Umgebung Holzkohlestücke sammeln und diese auf der Nestscheibe ablegen. Die schwarze Nestscheibe hebt sich dadurch von dem weißen Sand ab, in dem das Nest angelegt wird. Von April bis November verlassen die älteren Arbeiterinnen den Bau um acht Uhr morgens. Sie sammeln Samen von bis zu 50 verschiedenen Pflanzenarten sowie Beuteinsekten. Sie lassen alles in die oberen Nestkammern fallen, von wo jüngere Arbeiterinnen das Gesammelte in die unteren Kammern oder zu den Larven im unteren Drittel des Nestes tragen. Da die Samen für die Ameisen zu groß sind, um sie zu öffnen, warten sie darauf, dass diese keimen. Die Keimung variiert je nach Jahreszeit, Art und Bodentemperatur.

Bei allen Ameisenpopulationen besteht eine strikte Arbeitsteilung. Diese richtet sich nach ihrem Alter und geht einher mit ihrer Verortung im Nest. Junge Arbeiterinnen werden im unteren Drittel des Nestes geboren und verbringen die erste Phase ihres Lebens mit der Pflege der Brut. Mit zunehmendem Alter wandern sie im Nest auf und ab und verrichten allgemeinere Arbeiten wie den Transport von Nahrung, die Lagerung von Samen und das Ausheben von Kammern. Sie nehmen die ins Nest gebrachte Nahrung auf und transportieren sie ins Innere des Nestes. Nur die ältesten Arbeiterinnen verlassen für die Nahrungssuche das Nest. Ihre Lebenserwartung beträgt dann nur noch etwa drei Wochen. Im Nest ist eine ständige Aufwärtsbewegung alternder Arbeiterinnen zu beobachten, die diejenigen ersetzen, die während der Nahrungssuche sterben. Der Tod tritt seltener aufgrund des Alters ein, sondern wegen Umweltbelastungen wie Hitze und Austrocknung oder Revierkämpfen.

Die Nester der Harvester-Ameisen sind am größten und schönsten. Sie sind bis zu drei Meter tief und haben schraubenförmige Schächte, die lappige, pfannkuchenartige Kammern miteinander verbinden. Die oberflächennahen Kammern liegen sehr dicht beieinander und sind sehr komplex; mit zunehmender Tiefe werden sie einfacher und liegen weiter auseinander. Die Samenkammern befinden sich in der Regel in den mittleren Tiefen zwischen 40 und 100 cm. Eine Kolonie zieht im Durchschnitt einmal pro Jahr um, meist im Sommer. Sie zieht nicht weit weg – das neue Nest ist meist etwa vier Meter vom alten entfernt. Das neue Nest ist dem alten in Größe und Architektur ähnlich, was die Frage aufwirft, warum sie überhaupt umzieht. Bemerkenswert ist, dass der Aushub des neuen Nestes und der Transport des gesamten Inhalts des ursprünglichen Nestes (einschließlich der Samen) in das neue Nest nur vier bis sechs Tage dauert. Die meisten von Tschinkels Nestabgüssen wurden von kürzlich verlassenen Nestern gemacht, sodass keine Kolonie dafür getötet wurde.

Kolonien sind sehr langlebig. Ihre Reife erreichen sie mit etwa vier bis fünf Jahren, ihre Lebenserwartung beträgt über 30 Jahre. Das Bestehen der Kolonie hängt mit der Lebensdauer der Königin zusammen. Sie ist die Mutter aller Ameisen während der gesamten Lebensdauer der Kolonie. Sie paart sich nur zu Beginn ihres reproduktiven Lebens mit einem Dutzend oder mehr Männchen und speichert einen lebenslangen Vorrat an Sperma in einem kleinen Beutel, der Spermathek. Alle Weibchen entwickeln sich aus befruchteten Eiern, die Männchen aus unbefruchteten Eiern (wie es für alle Ameisen, Wespen und Bienen typisch ist).

TRACHYMYRMEX SEPTENTRIONALIS
Dies ist eine von zwei Arten von Pilzgärtner-Ameisen im Sandhills-Lebensraum. Ihr Verbreitungsgebiet reicht bis nach Long Island, NY, und bis nach Illinois. Die Arbeiterinnen haben stachelige, wulstige Körper. Sie bewegen sich langsam, sind aber extrem zahlreich mit bis zu 1.000 Populationen pro Hektar. Die Nester sind leicht zu erkennen, weil der ausgegrabene Sand halbmondförmig an einer Seite der Öffnung aufgehäuft wird. Wird der Haufen entfernt, schichten die Ameisen den Sand in der gleichen Richtung wieder auf. Auf abschüssigem Gelände befindet sich die Sichel normalerweise hangabwärts. Wenn die Ameisen in der Nähe ihres Nestes einen markanten Orientierungspunkt sichten, richten sie danach ihren Sandhügel aus. Sie orientieren sich also visuell. Offen bleibt eine Frage: Der Sandhügel wird von Arbeiterinnen errichtet, die sich offensichtlich über die Ausrichtung abstimmen. Wie das erfolgt, ist noch nicht erforscht.

In den circa 150 cm tiefen Nestern züchten die Ameisen in eiförmigen Kammern ihren Pilz. Diesen lassen sie auf einem Substrat aus Pflanzenresten und Raupenkot wachsen. Der Pilz ist die einzige Nahrung dieser Ameisen und ihrer Larven.

Etwa im Oktober nehmen die Ameisen die Pilzgärten auseinander und entsorgen sie. Wenn sich der Boden im Lauf des Sommers erwärmt, graben die Ameisen tiefere Kammern und verlegen die Gärten dorthin, wobei sie die höher gelegenen Kammern mit der ausgehobenen Erde auffüllen. Trotz der geringen Größe bewegen diese Ameisen etwa eine Tonne Erde pro Hektar und Jahr und sind somit wichtige Akteure bei der Erddurchmischung.

FORMICA DOLOSA
Diese Ameisen sind groß, graben gedrungene Nester und ernähren sich hauptsächlich vom Honigtau von Blattläusen und Schildläusen. Ihre Arbeiterinnen sind flink, beweglich und recht aggressiv. Ihre helle Färbung deutet darauf hin, dass sie hauptsächlich nachts auf Nahrungssuche sind. Die Arbeiterinnen haben große Giftdrüsen in ihren Kiefern und können zur Verteidigung Ameisensäure versprühen, die nach Essig riecht. Ihre dicht unter der Erdoberfläche gebauten Nester sind jedoch für Gürteltiere und Stinktiere dennoch leichte Beute.

Einige Arten lassen Blatt- und Schildläuse von dafür eingesetzten Arbeiterinnen züchten und bewachen. Diese übergeben den gemolkenen Tau anderen Arbeiterinnen, den sogenannten „Tankerinnen“, die zwischen der Blattlauspflanze und dem Nest pendeln. Manche Populationen bewachen ihre Läuse rund um die Uhr.

PHEIDOLE MORRISI
Diese Art bildet eine Koloniegröße mit bis zu 80.000 Arbeiterinnen. Sie baut Hügel über ihren unterirdischen Nestern. Diese bestehen aus bis zu vier Schächten mit kleinen, eng beieinander liegenden Seitenkammern. In den Flachwäldern begrenzt der Grundwasserspiegel die Tiefe des Nestes. Die Ameisen und ihre Brut sind abhängig von der Bodentemperatur und -feuchtigkeit. Die Population verteidigt ihre Grenzen gegen benachbarte Kolonien.

CYPHOMYRMEX RIMOSUS
Die von der Evolution ausgebildete Fähigkeit, Pilze als Nahrung zu züchten, hat sich nach jetzigem Wissenstand nur bei amerikanischen Ameisen nachweisen lassen. In dem Areal, das Tschinkel untersucht, fand er zwei Arten, die Cyphomyrmex rimosus und die Trachymyrmex septentrionalis. Erstere wanderte ursprünglich aus Argentinien ein, wo sie weit verbreitet ist. Pilzgärtner-Ameisen ernähren sich von Futter, das von anderen Ameisen nicht verwertet wird, insbesondere von toten Insekten. Aus diesen bilden die Ameisen Strukturen, auf denen sie einen hefeartigen Pilz wachsen lassen, den sie fressen. Die Larven werden in Kammern gehalten, die von den Pilzgärten getrennt sind. Der Pilz wächst normalerweise fadenförmig. Wenn Ameisen ihn in Gärten züchten, bildet er eine andere, zellartige Form aus.

Wie die meisten anderen pilzbewohnenden Ameisen beherbergen die Arbeiterinnen auf ihrer Körperoberfläche mehrere Arten von Bakterien und Pilzen, die Antibiotika produzieren, um das Wachstum von Unkrautpilzen in ihren Gärten zu unterdrücken.

Die Nestarchitektur dieser Ameisenart ist anders als die der Artgenossinnen – unregelmäßig, ohne echte Kammern, scheinbar chaotisch. Der Grund ist noch ungeklärt, denn die meisten anderen Ameisenarten bauen eiförmige Kammern, die ihre Pilzgärten beherbergen.

Paarungsflüge finden im Frühsommer statt. Die Männchen bilden einen schwebenden Schwarm, in dessen Mitte die Weibchen fliegen. Die geflügelten, geschlechtsreifen Weibchen nehmen auf ihren Paarungsflügen ein Stück des Pilzes aus ihrem Geburtsnest mit. Wenn sie dann ihr neues Nest durch Graben anlegen, schaffen sie mit toten Insektenteilen wieder eine Struktur, auf der sie die Pilzstücke pflanzen und so einen neuen Garten anlegen.

Walter R. Tschinkel (*1940, Lobositz, CZ) ist ein US-amerikanischer Biologe, Myrmekologe, Entomologe und R.O. Lawton Distinguished Professor Emeritus an der Florida State University, Tallahassee (US), an der er über 40 Jahre lehrte. Er ist der Autor des für den Pulitzer-Preis nominierten Buches The Fire Ants (Harvard University/Belknap Press 2006), des Buches Ant Architecture: The Wonder, Beauty, and Science of Underground Nests (Princeton University Press 2021) sowie von mehr als 150 Original-Forschungsarbeiten über die Naturgeschichte, Ökologie, Nestarchitektur und Organisation von Ameisengesellschaften. In den frühen 2000er Jahren begann er mit der Erforschung der Architektur unterirdischer Ameisennester und erfand die Verwendung von geschmolzenem Aluminium und Zink zur Herstellung von Abgüssen im Feld. Seine Abgüsse wurden weltweit ausgestellt, unter anderem in Museen in San Francisco, New Orleans, New York, Houston, Minneapolis, Washington, DC, dem E.O. Wilson Biophilia Center in West Florida, San Diego (US), und Birmingham sowie in Paris (FR), Amsterdam (NL), Mailand (IT) und Vancouver (CA). In seinem Ruhestand setzt Walter seine Ameisenforschung in kleinem Rahmen fort. Unter anderem teilt er seine Erkenntnisse in YouTube-Videos und kurzen Aufsätzen in einem Substack-Newsletter.