Alberto Stabile
Gibellina Heartquake VR, 2022–2024
Immersive Virtual-Reality-Erfahrung
26-30 min
Für die Bereitstellung des Archivmaterials danken wir dem Archivio storico del Centro Sviluppo Creativo “Danilo Dolci” und Rai (Radiotelevisione Italiana)
Courtesy Alberto Stabile
Gibellina Heartquake VR ist aus dem Wunsch heraus entstanden, die Geschichte von Gibellina und der Region Belice zu erzählen, die durch das Erdbeben von 1968 tief geprägt wurden. Mit einer VR-Brille lässt das immersive Erlebnis unmittelbar an zentralen Momenten während und nach dem Erdbeben teilhaben. Dabei sollen die User:innen nicht nur zusehen, sondern auch aktiv interagieren. Die virtuellen Bilder kombinieren computergeneriertes Material mit authentischen Fernseh- und Radioaufnahmen. Sie erzählen auf bewegende Weise, wie die Identität einer ganzen Gemeinde über Generationen hinweg geformt wurde. In der Ausstellung Das Anwesende des Abwesenden zeigt Gibellina Heartquake VR zusammen mit dem Fotoprojekt Il Cretto è casa mia der Associazione Gibellina Parco Culturale und dem Film Il Grande Cretto di Gibellina von Petra Noordkamp, wie Erinnerung durch Kunst lebendig bleiben kann.
Das VR-Projekt wurde 2021 mit Geldern der Gemeinde Gibellina finanziert. Einige der Einwohner:innen und Überlebenden sind in Originalmitschnitten zu hören, darunter der Aktivist Danilo Dolci sowie der damalige Bürgermeister Ludovico Corrao. Doch trotz der großen Unterstützung der Gemeinde und der Übergabe der endgültigen Fassung dieses virtuellen Werks an das Museum für zeitgenössische Kunst „Ludovico Corrao“ im Jahr 2022 wird Gibellina Heartquake VR im Frankfurter Kunstverein erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.
Das Andenken an Gibellina und seine Zerstörung durch das Erdbeben von Belice vor mehr als 55 Jahren hat ganz Sizilien nachhaltig verändert. Es darf nicht in Vergessenheit geraten. Gibellina Heartquake VR wurde geschaffen, um nachfolgenden Generationen die Möglichkeit zu geben, die damals gemachten Erfahrungen nicht nur als fernes, historisches Ereignis zu kennen, sondern sie selbst zu erleben, sich davon berühren zu lassen – und so die Wunde der Menschen zu verstehen, deren Leben die Naturgewalt für immer verändert hat.
Der erste Teil der VR-Erfahrung zeigt die historischen Ereignisse vom Januar 1968. Die Erzählung beginnt mit TV-Bildern von Gibellina unmittelbar nach dem Erdbeben. Danach finden sich die User:innen virtuell in einem eleganten Wohnzimmer in Rom wieder. Im Fernsehen sehen sie originale Fernsehberichte und Eilnachrichten über das Erdbeben. In einer weiteren Szene lassen sich die dramatischen Momente der Katastrophe virtuell aus der Perspektive von Einwohner:innen Gibellinas erleben. Der Kontrast zwischen dem Wohlstand in der Hauptstadt und der in Gibellina herrschenden Armut verdeutlicht die tiefgreifenden Ungleichheiten zwischen Süditalien und mit dem Rest des Landes zu jener Zeit. Die Erzählung führt die User:innen in Zeltstädte und Hütten, in denen die Überlebenden jahrelang unter prekären Bedingungen ein normales Dasein zu führen versuchten. Ein Gewitter tobt über den fragilen Hütten, Wasser dringt ein. Im Hintergrund hört man historische Aufnahmen des freien Radiosenders „Radio Libera“, in denen der Aktivist Danilo Dolci das Versagen der italienischen Behörden bei der Bereitstellung menschenwürdiger Lebensbedingungen in den Notunterkünften und beim Wiederaufbau der Stadt öffentlich anprangert.
Der zweite Teil der VR-Erfahrung führt in eine traumartige, surreal anmutende Welt. Hier stehen die Kunstwerke und baulichen Wahrzeichen des neuen Gibellina in einer leeren Landschaft, verlassen und darauf wartend, entdeckt zu werden. Die Bauten sind vielfach nicht fertiggestellt. Wie auch in Wirklichkeit nicht: Diese Traumwelt steht für die Utopie einer Stadt, Gibellina Nuova (Neu-Gibellina), die in den 1970er Jahren am Reißbrett entstand, 18 Kilometer von den Trümmern der einstigen Stadt entfernt. Die Hoffnung des Neuanfangs sollte durch Kunst(werke) symbolisiert werden. Zusätzlich zum berühmten Cretto di Gibellina des Künstlers Alberto Burri, das auf den Ruinen des zerstörten alten Gibellina entstand, stellten zahlreiche weitere Künstler:innen aus ganz Italien der Kleinstadt Gibellina Nuova Werke, Monumente und Gebäude zur Verfügung. Doch der Traum blieb eine unvollendete Utopie.
„Die Vision von der Wiedergeburt der zerstörten Stadt durch Kunst und Architektur verbindet sich mit meinem persönlichen Traum, die VR-Erfahrung Gibellina Heartquake VR der Öffentlichkeit zeigen zu können. Beide Träume teilen das Schicksal, irgendwie unvollendet geblieben oder durch die Umstände ausgebremst worden zu sein. Und beide leben von der Zuversicht, vollständig realisiert zu werden. Gibellina Heartquake VR wird im Frankfurter Kunstverein zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Es ist mein großer Wunsch, dass dieses Projekt, das auf Drängen der Bewohner:innen von Gibellina entstanden ist, nicht nur in Italien, sondern auch im Ausland neues Leben und neue Sichtbarkeit erlangt. So kann die Geschichte von Gibellina einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, damit diese nachdenken kann über den Umgang mit Wunden und Verlust, aber auch mit Hoffnungen und dem Willen zur Transformation, wie sie dramatische Ereignisse erzeugen.“
Alberto Stabile
Alberto Stabile (*1994, Gibellina Nuova, IT) ist ein 3D-Künstler und VR-Entwickler. Seine Familie erlebte das Erdbeben 1968 in Gibellina und gehört zu den Menschen, deren Schicksal bis heute davon geprägt und verändert wurde. Seit 2018 arbeitet er als 3D-Artist und VR-Entwickler und kooperiert dabei mit Architekturbüros sowie internationalen Automobilunternehmen. Nach Jahren in der 3D-Visualisierung und Full-CGI-Animation ist das Projekt Gibellina Heartquake VR für Stabile eine Rückkehr zu seinen Wurzeln – ein Versuch, das kollektive Gedächtnis seiner Gemeinde durch digitale Kunst neu zum Leben zu erwecken.