Der Cretto sind wir
Ein Text von Nicolò Stabile
WAS IST DER CRETTO?
Der Grande Cretto di Gibellina von Alberto Burri ist eines der größten Kunstwerke der Welt und misst 270 x 310 Meter. Wie ein Leichentuch aus weißem Beton bedeckt es die Trümmer des kleinen Dorfes, das durch das Erdbeben vom 15. Januar 1968 zerstört worden ist. Im Zentrum Westsiziliens, in einer Region mit reichem kulturellem Erbe, steht es in einem zeitlosen Dialog mit den imposanten Säulen des griechischen Selinunte weiter südlich und der erhabenen Abgeschiedenheit des Tempels von Segesta, einer antiken Stadt der Elymer im Norden.
Der Cretto von Alberto Burri wurde aus den Steinen und Gegenständen errichtet, die einst Gibellina formten: Straßen, Plätze, Häuser, Ställe, Geschäfte, Werkstätten, Schulen, Kirchen, ein Barocktheater und eine Burg aus dem 14. Jahrhundert. Der Cretto ist das Grab und die verlorene Heimat eines kleinen Dorfes im Süden Italiens. Er rekonstruiert ideale, räumliche und zeitliche Wege zwischen Erinnerung und Gegenwart, zwischen den Lebenden und den Toten.
Er ist ein Werk, das sich jedem Versuch der Kategorisierung entzieht.
EIN RUF AN DIE KÜNSTE
Seine Geschichte ist komplex. Sie beginnt 1979 und ist bis heute nicht abgeschlossen. Sie hatte einen Deus ex Machina: Ludovico Corrao, Bürgermeister von Gibellina von 1970 bis 1994, der – wie Fitzcarraldo – wusste, dass Träume Berge versetzen können.
Wir befinden uns am Ende der 1970er Jahre. Für die Bürger:innen von Gibellina, die das Erdbeben überlebt haben, setzt sich das Trauma fort: Sie müssen mehr als ein Jahrzehnt in provisorischen Notunterkünften hausen – eisig im Winter und glühend heiß im Sommer. Neue Stadtzentren beginnen nach Plänen des Staates Gestalt anzunehmen – einige davon, wie Gibellina Nuova, weit entfernt von den alten Siedlungen. Diese Pläne wurden in einem Büro der fernen Hauptstadt Rom von einer Handvoll Stadtplaner:innen entworfen, die glaubten – wie sie im Projektbericht schrieben –, die Mafia zu bekämpfen, indem sie breite Straßen bauten, um die Einwohner:innen voneinander zu trennen. Die Anliegen und Bedürfnisse der lokalen Gemeinschaften wurden dabei ignoriert. Mehr noch: Den Gemeinden wurde per Gesetz jegliche Entscheidungsbefugnis aberkannt.
Ludovico Corrao ist machtlos gegenüber den vom Staat aufgezwungenen städtebaulichen Entscheidungen. Er ist sich jedoch der Ignoranz dieser Pläne bewusst und überzeugt, dass Häuser allein nicht ausreichen, um das Gemeinschaftsgefühl und die Verbundenheit wiederherzustellen. Er weiß, dass der Wiederaufbau einen höheren Sinn erhalten muss, bei dem Schönheit als Motor und verbindendes Element fungiert. Deshalb versammelt er Künstler:innen, Intellektuelle und Kulturschaffende, um zu versuchen, die Stadt schöner zu machen.
Der Schriftsteller Leonardo Sciascia schrieb in seiner Rede, die er am 15. Januar 1988 in Gibellina anlässlich des zwanzigsten Jahrestages des Erdbebens hielt: „Der italienische Staat – das muss man sagen – war weder bereit noch geneigt, eine Forderung nach Wiederaufbau anzunehmen, die mehr als nur eine Wiederherstellung des Elends darstellte: Vielleicht hoffte man tatsächlich auf die Flucht, das Verlassen, auf den Wunsch, woanders neu zu beginnen; und der Beweis dafür ist, dass das ,Gesetz zwei Prozent‘, das Gesetz, das bei öffentlichen Bauwerken zwei Prozent der Ausgaben für künstlerische Gestaltungen vorsieht, für den Wiederaufbau dieser Städte ausgesetzt und aufgehoben wurde. Verbot der Kunst, Verbot der Schönheit: Als wollte man, dass alles hässlicher ist als zuvor, dass die Menschen einander und ihre Heimat nicht wiedererkennen. Ob Absicht, unbewusster Wunsch oder einfach nur das Fehlen auch nur einer vagen Idee davon in den herrschenden Kreisen, was das Leben verschönert und stärkt – hier in der Umgebung ist dies mehrfach offensichtlich geworden; aber in Gibellina hat es einen Ort des Widerstands gefunden. [Ludovico Corrao] hat gezeigt, dass das Leben nicht anderswo ist, sondern dass es auch hier sein kann.“
Künstler:innen folgen dem Ruf Corraos, und das neue Gibellina erwacht durch die Kunst zum Leben. Ende der 1970er Jahre wird Gibellina zu einem permanenten Labor der Künste, einem Treffpunkt für Kunstschaffende und einem Freilichtmuseum.
AUS DEN TRÜMMERN ENTSTEHT EIN MEISTERWERK
Corrao gelingt es sogar, den Künstler Alberto Burri, der als schwierige Persönlichkeit gilt, zu überzeugen, nach Gibellina zu kommen. Im Jahr 1979 reist Burri aus Rom an, mit all seinen Vorurteilen über den Süden und dessen Bewohner:innen. Die neue Stadt inspiriert ihn nicht, und die Vorstellung, ein Werk neben jenen von Künstler:innen zu hinterlassen, die er nicht schätzt, reizt ihn nicht: „Hier mache ich sicher nichts.“ Doch dann besucht er die Ruinen des vom Erdbeben zerstörten Gibellina. Er muss diese Stille gespürt haben, die nur vom Krächzen der Krähen unterbrochen wird in dieser hügeligen Landschaft, die sich bis zum afrikanischen Meer erstreckt, und er ist fast bewegt. Die Idee kommt ihm noch am selben Abend: „Ich würde es so machen: Wir verdichten die Trümmer, die ja ohnehin ein Problem für euch sind, befestigen sie richtig, und mit Beton schaffen wir einen riesigen weißen Cretto (Riss), damit dieses Ereignis für immer in Erinnerung bleibt.“
Um die Arbeit zu realisieren, träumt Burri von der aktiven und tatkräftigen Beteiligung der Bewohner:innen von Gibellina. Erst viel später sollte er erfahren – und es machte ihn sehr traurig –, dass vielen der Cretto nicht nur nicht gefiel, sondern als eine Art von Gewalt empfunden wurde.
EINE SCHWIERIGE VERWIRKLICHUNG
Um Gelder, Material und Arbeitskräfte zu beschaffen, bedient sich Corrao unzähliger Einfälle und Strategien. Es ist undenkbar, den Staat um die Finanzierung zu bitten. 1985 beginnt das Werk, Gestalt anzunehmen und sich zwischen den Trümmern auszubreiten. Burri überlässt es den Techniker:innen und Arbeiter:innen, Lösungen zu finden, um seine Empfehlungen umzusetzen. Er verfolgt das Projekt aus der Ferne über seinen Freund Alberto Zanmatti, den Architekten vor Ort.
Am Morgen des 23. Mai 1987 sieht Burri seinen Cretto zum ersten und letzten Mal: Er scheint enttäuscht und sagt fast nichts. Ihm fehlt wahrscheinlich der Blick von oben, an den er sich durch das Modell, an dem er gearbeitet hat, gewöhnt hat. Trotz der Größe vermisst er das Gefühl von Großartigkeit, das er sich vorgestellt hat. Der Besuch dauert nur wenige Stunden, gerade genug, um ein Foto von der Begegnung des Künstlers mit seinem Werk zu machen.
1989, als 70 Prozent des Werkes fertiggestellt sind, werden die Arbeiten wegen fehlender Mittel eingestellt. Corrao gelingt es, eine Finanzierung von der Region Sizilien zu erhalten, indem er das Projekt nicht als Kunstwerk, sondern als „Stadtpark“ einreicht. Doch es bleibt ihm keine Zeit mehr, um die bürokratische Maschinerie in Gang zu setzen. Nach mehr als zwanzig Jahren wollen die Menschen in Gibellina ihn nicht mehr als Bürgermeister, und 1994 wird Corrao nicht wiedergewählt. Sein Nachfolger schafft es, diese Finanzierung absichtlich zu verlieren, und von da an wird der Cretto allmählich aufgegeben.
Jahre vergehen, aus Weiß wird Grau. Das Metall unter der Oberfläche rostet, wodurch Teile des Betons abbrechen. Es gibt einige kleine Einstürze, Absplitterungen und Risse. Abgesehen von ein paar Reinigungen zur Entfernung der Vegetation, die begonnen hat, das Werk zu überwuchern, wird keine Instandhaltung durchgeführt. Niemand kommt mehr zu den Ruinen. Die Gelegenheiten, sich dort zu versammeln, werden immer seltener. Der Cretto gerät fast in Vergessenheit. Auch Burri spricht nicht gern darüber. Wie er vorausgesagt hat, stirbt er 1997, ohne sein Werk vollendet zu sehen.
Dann entsteht auf den umliegenden Hügeln, wo es ein paar Jahren zuvor noch junge Wälder gab, ein Windpark. Die Gemeinde hält es für notwendig, einen Parkplatz anzulegen, und baut ihn in unmittelbarer Nähe des Werks von Alberto Burri aus demselben weißen Beton: Aus der Ferne wirkt das wie eine Metastase des viereckigen Körpers des Cretto. Mit demselben Material wird das Stück Provinzstraße, das an einer Seite des Cretto entlangführt, neu asphaltiert, wodurch dessen Form verunstaltet wird. Es gibt keinen Aufschrei, dass diese groben öffentlichen Eingriffe Burris Idee entstellen. Institutioneller Vandalismus.
DER CRETTO IST EIN LEBENDIGER ORT
Die Idee, einen Aufruf zur Rettung des Cretto zu starten, kam mir an einem Sommernachmittag im Jahr 2010, als ich mit Ludovico Corrao sprach. Er war bereits schwer krank, doch keineswegs resigniert. Die Tatsache, den Cretto nicht vollendet zu sehen, machte ihn jedoch tieftraurig. Der Aufruf wurde von etwa hundert Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur unterzeichnet und an den zuständigen Minister und den Regionalrat geschickt. Keine zwei Monate später betonten in einer gemeinsamen Erklärung des Ministeriums der Staatssekretär und der Regionalassessor, dass der Appell nicht unbeachtet bleiben würde. Das Ministerium stellte Mittel aus Lotto-Einnahmen für die Restaurierung bereit. Die Region zögerte jedoch beim Thema Fertigstellung, und der Assessor drängte darauf, private Investoren mit einzubeziehen. Dann, am 7. August 2011, wurde Ludovico Corrao in einer fatalen Wendung, die an eine griechische Tragödie erinnert, von seinem Pfleger ermordet. Drei Tage später, als wir auf dem Vorplatz der Chiesa Madre von Gibellina Senator Corrao die letzte Ehre erwiesen, nahm mich Assessor Sebastiano Missineo beiseite und sagte, von seinen Emotionen überwältigt, er werde die nötigen Mittel für die Vollendung finden – das sei er Corraos Andenken schuldig. Er hielt sein Versprechen.
Die Arbeiten am Cretto wurden 2015 abgeschlossen. Der neue schneeweiße Teil war, wie Burri ihn sich vorgestellt hatte, ließ aber den alten grauen Teil des Cretto umso mehr hervortreten, wodurch ein auffälliger Kontrast entstand. Was tun, um dessen Erhalt für die Nachwelt zu sichern? Wie lassen sich der alte und der neue Teil angleichen? Von Anfang an war klar, dass die Pflege dieses außergewöhnlichen Werkes eine ebenso außergewöhnliche Herangehensweise erfordert.
Burri hätte sich gewünscht, dass die Gemeinschaft von Gibellina das Werk selbst umsetzt. Immerhin wurde sein Werk der Bürgerschaft geschenkt. Obwohl diese durch die Zwangsenteignung ihrer nicht mehr existierenden Häuser ihr Eigentum und den Anspruch darauf verloren hat, ist sie moralisch Eigentümerin und somit Hüterin des Cretto. Auch auf dieser Grundlage wurde gemeinsam mit Corrao darüber nachgedacht, dass der Cretto regelmäßig von der Gemeinde mit Kalk gereinigt und gestrichen werden sollte. Kalk ist ein einfaches, desinfizierendes Material, das leicht zu verwenden ist und an eine Tradition im gesamten Mittelmeerraum anknüpft. Dies schien der einzig gangbare Weg.
Der Cretto darf nicht sterben, aber er kann sich auch nicht in ein schwarzes Loch öffentlicher Gelder verwandeln. Vielmehr sollte er durch gezielte Maßnahmen, die seine Förderung und Sichtbarkeit sicherstellen, zu einem gemeinsamen Kulturgut werden, das Reisende anzieht und, wenn gut verwaltet, wirtschaftliche Vorteile bringt.
Doch der wahre Schlüssel zur Sicherung der Zukunft des Cretto liegt in der Beziehung zwischen dem Ort der Ruinen und den Menschen. Sie erlebten den Cretto anfänglich als Fremdkörper, als eine Gewaltanwendung gegen die Ruinen, die in ihrer bescheidenen physischen Präsenz jedoch eine tiefe emotionale Verbindung hervorriefen. Die anfängliche Ablehnung dieses Werkes hat die physische Distanz (18 km) zwischen dem neuen und dem alten Gibellina vergrößert, zu einer Distanz, die durch die Gleichgültigkeit gegenüber einem halb fertigen Werk noch gewachsen ist.
Die Notwendigkeit einer partizipativen Restaurierung, die von der Gemeinschaft initiiert wird, ergibt sich zunächst aus dem Bedürfnis, eine neue Beziehung zu Burris Werk und zum gesamten Ort der Ruinen aufzubauen. Diese Notwendigkeit sollte die Grundlage für weitere Planungen und Umsetzungen bilden. Die Restaurierung sollte in erster Linie eine Gelegenheit bieten, sich in einem festlichen und ritualhaften Moment wiederzufinden, in dem die Bevölkerung sich den Ort und die damit verbundenen Symbole zurückerobert. Die Restaurierung sollte nicht nur wirtschaftlich nachhaltig sein, sondern auch in der Lage, wirtschaftliche Aktivität zu erzeugen und somit direkte Vorteile zu bringen. Außerdem muss sie dafür sorgen, dass die Idee Burris in ihrer ursprünglichen und grundlegenden Farbigkeit ständig sichtbar bleibt. Für die Menschen von Gibellina wäre dies eine Möglichkeit, den Bann der menschlichen Nostalgie zu brechen: den Bann einer durch das tragische Ereignis des Erdbebens und die folgenden Ereignisse idealisierten vergangenen Zeit, den gegenwärtigen Moment zu akzeptieren und zu beginnen, in die Zukunft zu investieren.
Auch eine Restaurierung aller bestehenden Werke in Gibellina Nuova sollte auf eine Weise durchgeführt werden, die die zahlreichen Künstler:innen mit einbezieht. Viele haben bereits ihre Bereitschaft zur Teilnahme signalisiert.
In den letzten Jahren hatte ich die Gelegenheit, diese Idee mit Restaurator:innen, Expert:innen für zeitgenössische Materialien, Kunsthistoriker:innen, Kurator:innen, Künstler:innen, Musiker:innen und Performer:innen zu teilen. Mit Menschen, die Alberto Burri in den Jahren, in denen der Cretto gebaut wurde, am nächsten waren und mit ihm zusammengearbeitet haben sowie mit den Bewohner:innen von Gibellina. Und auch mit den Entscheidungsträger:innen der zuständigen Institutionen, dem Rathaus von Gibellina und der Oberaufsichtsbehörde für Denkmalschutz in Trapani. Abgesehen von letzteren, die an einer konservatorischen Restaurierung festhalten, haben alle diese Idee und ihre tiefere Bedeutung mit Begeisterung aufgenommen.
Corraos Projekt, verkörpert durch Gibellina und exemplarisch im Cretto von Burri zusammengefasst, basiert auf der mediterranen Idee, dass Schönheit regeneriert. Ebenso wie auf der Notwendigkeit, die grundlegenden Mythen unserer Zivilisation durch ihre Wiederbelebung neu zu aktivieren. Die partizipative Restaurierung würde den Übergang von der Utopie zur Gegenwart markieren, und der Cretto würde schließlich das Gesamtkunstwerk werden, das Burri sich erträumt hat.
DER CRETTO IST MEIN ZUHAUSE
Wir haben die Frauen und Männer, die die Erinnerung an das alte Gibellina unter dem Cretto bewahren, gebeten, an den Ort zurückzukehren, an dem sie geboren wurden und aufgewachsen sind. Dies ist eine Gelegenheit, sich in einem Ritual wiederzufinden, in dem die Bevölkerung den Ort und die damit verbundenen Symbole zurückerobert.
Jede:r stellt sich mutig für ein Foto genau an den Ort, wo sein/ihr Leben in Gibellina Vecchia endete, und sagt: „Das ist mein Zuhause.“
Das partizipative Fotoprojekt, von dem eine Auswahl in der Ausstellung gezeigt wird, soll dazu beitragen, Burris Idee in ihrer Kraft ständig sichtbar zu halten. Vielleicht wird der Cretto vollständig zu dem Gesamtkunstwerk, das Burri sich vorgestellt hat, indem es sich mit seiner Gemeinschaft „aktiviert“.
Ein weiterer kleiner Schritt, um Il Grande Cretto von Alberto Burri von der Utopie, aus der es stammt, als wunderbare Realität in unsere Gegenwart zu begleiten.
Nicolò Stabile
Gibellina, August 2024