Petra Noordkamp
Il Grande Cretto di Gibellina, 2015
Film, 14 min
Courtesy Petra Noordkamp und The Solomon R. Guggenheim Foundation
Petra Noordkamp ist Künstlerin. Sie arbeitet mit Fotografie und Film und erforscht den Einfluss von Erfahrungen, Erinnerungen, Filmen und Träumen auf die Wahrnehmung von Architektur und der städtischen Umwelt.
2015 entstand auf Einladung des Guggenheim Museums New York ihr Film Il Grande Cretto di Gibellina. Noordkamp widmete ihn dem Landschaftsmonument des italienischen Künstlers der Arte Povera, Alberto Burri (*1915, Città di Castello, IT; † 1995, Nizza, FR). Die Errichtung des Cretto begann im Jahr 1984 und wurde 2015 abgeschlossen. Das Werk erstreckt sich heute über eine Fläche von 90.000 Quadratmetern.
Die Geschichte des Cretto di Gibellina (Der Riss von Gibellina) von Alberto Burri ist komplex. 1979 begann Burri mit der Idee für das Werk. Zwischen 1985 und 1989 ließ er eine 1,50 Meter hohe Schicht aus weißem Zement über die Trümmer gießen, die das große Erdbeben vom 14. Januar 1968 hinterlassen hatte und das die Stadt Gibellina sowie das Leben ihrer 5.000 Bewohner:innen zerstörte. Straßen, Plätze, Häuser, Geschäfte, Schulen, Kirchen, ein Theater, das Chiaramonte-Schloss aus dem 14. Jahrhundert, alles stürzte ein und begrub Menschen sowie ihr Hab und Gut unter sich. Etwa hundert Menschen starben. Alle anderen verloren ihr Zuhause und jede Familie hatte Opfer zu beklagen. Eine traumatisierende und grundlegende Erfahrung der Unentrinnbarkeit vor der Macht der Natur. Burris Werk, das elf Jahre nach dem Geschehnis entstand, bewahrt die Ruinen und bedeckt sie mit der weißen Zementschicht.
Es ist ein Ort der Abwesenheit, der Erinnerung und der Stille. Burris Größe liegt darin, den Schmerz und die Trauer der Menschen gespürt und geachtet zu haben. Er gab dem eine Form. Burri wählte ausdrücklich weißen Zement. Die Farbe Weiß war für ihn ein Symbol des Lichtes. Ein Licht, das an dem Ort dunkelster Erfahrungen von Zerstörung und Tod sich diesen widersetzt. Das scheinbar harte Material ist selbst verletzlich. Die Zeit macht es brüchig. Kapernpflanzen wurzeln und sprengen Risse in die Oberfläche, Algen und Moos zersetzen sie, Wind, Sonne und Regen. All dies erinnert uns an die menschliche Form des Lebens, die immer verletzlich ist. Der Zement und die menschengemachte Form würden im ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen zerfallen, hätten die Überlebenden des Erdbebens sich nicht der Aufgabe verschrieben, den skulpturalen Körper des Cretto zu pflegen. Wie schwer es ist, das Weiß des Betons zu bewahren, wissen die Menschen, die den Verein Associazione Gibellina Parco Culturale gegründet haben. Ihre Fürsorge trotzt der Zeit und dem Vergessen. Denn in seiner erhabenen Schönheit soll der Cretto bestehen bleiben. Als Symbol einer Abwesenheit und gleichzeitig als Zeichen der Kraft des Schönen ist dies einigen Menschen von Gibellina ein Wert.
Burri suchte nach der Schönheit. Für ihn ist es die Form, die in einem strengen Gleichgewicht sinnlich und geistig bildhaft zu uns spricht. Es ist nicht die Auffassung einer Schönheit, die das Hässliche, das Unverständliche, die Verletzung und Zerbrechlichkeit verdeckt und beschönigt, sondern er vertritt die Überzeugung, dass Kunst sie in sich aufnimmt und zu Sinnhaftigkeit macht.
Petra Noordkamp verbrachte viele Monate in Gibellina. Für sie war es ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit, die Stille des Cretto zu erleben, Zeit dort zu verbringen und eine Form zu finden, diesen Ort Menschen in der Ferne filmisch nahe zu bringen. Sie sichtete historische Fotos und Filmaufnahmen, die ihr die Menschen zeigten, die das Erdbeben überlebt hatten. Sie war berührt von den Bildern vergangener Zeiten und des heute abwesenden Lebens. Dieses Material fügte sie in ihren Film ein als Hommage an die Freund:innen und Bewohner:innen von Gibellina. So sehen wir eine Szene, in der der Vater und der Bruder von Nicolò Stabile, heute Initiator der Associazione Gibellina Parco Culturale und Aktivist, zu sehen sind, und der zu einem engen Freund wurde.
Aus der Luft erscheint der minimalistische Entwurf von Burri wie ein weißes Quadrat, wie eine Leinwand, die den gesamten Hügel bedeckt, durchfurcht von tiefen Spalten und Rissen. Diese erinnern an die Straßen der zerstörten Stadt Gibellina. Sie lassen auch an die Furchen denken, die Erdbeben anrichten. Und sie stehen sinnbildhaft für die Risse in den Existenzen der Menschen, die in Gibellina alles verloren.
Petra Noordkamp wählt bewusst den Blickwinkel (altern. Kameraeinstellung) auf Augenhöhe. Es ist, als führte ihr Film uns durch die Wege des Cretto di Gibellina. Ihre Arbeit schafft ein Gefühl der Anwesenheit. Noordkamp erzeugt in den Betrachtenden den Eindruck, den Ort zu durchschreiten und nachzuempfinden, was dort passiert sein mag.
Für die Vertonung ihres Filmes hat Petra Noordkamp die niederländische Klangkünstlerin Nathalie Bruys eingeladen. Sie nahm vor Ort Umgebungsgeräusche auf – die Geräusche der Schafe, des Windes und der Vögel – und integrierte sie als Tonfragmente in die endgültige Klanglandschaft des Films.
Burri selbst hatte hinterlassen, dass der Cretto ein Ort der Stille bleiben soll. Nur Elemente der Natur sollen zu hören sein – die Vögel, der Wind, die Grillen. Kein touristischer Trubel, keine Vermarktung sollen stören. Momente der Selbsteinkehr. Die Erfahrung des Individuums als Ausdruck des Hier und Jetzt in Anbetracht der Ewigkeit von Raum und Zeit stellt sich an diesem besonderen Ort ein.
Noordkamps gesamtes Werk ist von den Gedanken des finnischen Architekten Juhani Pallasmaa zur Stille beeinflusst. Die Welt verliert ihr Mysterium, ihre Poesie und ihre sinnliche Anwesenheit, so der Architekt. Der Verlust der Stille und der Dunkelheit stehen sinnbildhaft für eine Entfremdung des Menschen von einem spirituellen Bezug zur Welt und zur Natur.
Der Film von Petra Noordkamp verdeutlicht, wie das Cretto von Alberto Burri für seine eigene Geschichte und als Narbe in der Zeit steht. Er erinnert an die Katastrophe und zeigt gleichzeitig einen Ort der Schönheit inmitten der ewigen Hügellandschaft des Belice-Tals. Hier hat die Kunst die Aufgabe erfüllt, eine Wunde zuzudecken. Das Verletzte zu schützen und zu bewahren. Die Anwesenheit des Abwesenden.
Petra Noordkamp (*1967, Losser, NL) ist eine niederländische Künstlerin und Filmemacherin, die in Amsterdam (NL) lebt und arbeitet. Von 1996 bis 2000 studierte sie Fotografie an der Gerrit Rietveld Akademie in Amsterdam (NL). 2012 präsentierte Noordkamp ihren ersten Kurzfilm The Mother, the Son and the Architect, gedreht in der Chiesa Madre des Architekten Ludovico Quaroni in Gibellina (IT), in einer Einzelausstellung im Fotografiemuseum Foam in Amsterdam (NL). Der Film wurde auf zahlreichen internationalen Filmfestivals gezeigt. 2013 war sie Artist-in-Residence an der American Academy in Rom (IT). 2014 kehrte sie im Auftrag der Guggenheim Foundation, New York (US), nach Gibellina zurück, um den Kurzfilm Il Grande Cretto di Gibellina über das Land-Art-Kunstwerk Cretto von Alberto Burri zu realisieren. Dieser wurde in renommierten Institutionen wie dem Guggenheim Museum, New York (US), K21, Düsseldorf (DE), und dem Centre Pompidou, Paris (FR), gezeigt. Ihr Film When You Return I’ll Be Living by the Waterside (2017) feierte seine Weltpremiere beim International Film Festival Rotterdam (IFFR) im Jahr 2018. 2017 realisierte Noordkamp die Diptychon-Installation Fragile – Handle with Care, die vom Museo Nazionale delle Arti del XXI Secolo – MAXXI in Rom (IT) in Auftrag gegeben wurde. 2020 begann sie das Projekt Better Not Move in Tokio (JP), das sich in einem Buch, einem Film und mehreren Ausstellungen manifestierte.