Associazione Gibellina Parco Culturale
Il Cretto è casa mia (Der Cretto ist mein Zuhause), 2024 – fortlaufend
Ein Projekt von Nicolò Stabile
34 Fotografien von Giuseppe Ippolito
Digitale Fotografie, Maße variabel
Gedanken der Überlebenden des Erdbebens von Belice 1968, aufgeschrieben und ausgewählt von Giovanna Giordano
Courtesy Giuseppe Ippolito (Fotos) und Giovanna Giordano (Text)
Il Cretto è casa mia (Der Cretto ist mein Zuhause) wird im Frankfurter Kunstverein zum ersten Mal öffentlich gezeigt. Die fotografische Arbeit wurde 2024 durch die beharrliche Entschlossenheit von Nicolò Stabile ins Leben gerufen, der sie als Teil seiner unermüdlichen Arbeit zur Bewahrung des Cretto von Alberto Burri und der Geschichte von Gibellina umsetzt.
Zu sehen sind Porträts von Menschen, die das Erdbeben von Belice überlebten, das 1968 den Westen Siziliens mehrfach erschütterte und zerstörte. Sie sind die letzten Zeug:innen dieses traumatischen Erlebnisses. Die betroffenen Menschen verloren Angehörige und ihr Zuhause. Das Erdbeben sowie die Untätigkeit der Behörden ließen sie heimatlos und mit dem Verlust ihrer gesamten Existenz allein zurück. Nach Jahren in temporären Baracken wurde 18 Kilometer entfernt Gibellina Nuova (das neue Gibellina) erbaut. Künstler:innen und Architekt:innen spendeten Werke. Es war die Stadt einer Utopie der Moderne, die im Laufe der Jahre wieder dem Verfall preisgegeben wurde.
2024 entstand das partizipative Projekt Il Cretto è Casa Mia als Versuch der Heilung und der Wiederaneignung eines Ortes, der in seiner gesamten Präsenz von einer tief empfundenen Abwesenheit zeugt. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Erdbeben haben sich Menschen zusammengetan, um ihre Porträts anfertigen zu lassen. Sie stehen vor den einstigen Trümmern ihrer Häuser. In den 1980er Jahren entstand auf diesen Überresten das Landschaftskunstwerk von Alberto Burri, der Cretto di Gibellina, als Ort der Stille und der Erinnerung. Dem Künstler gelang es, den Schmerz durch einen respektvollen gestalterischen Akt in eine Form erhabener Schönheit umzugestalten. Seine weißen Betonschichten verhüllten die Überreste, einem Leichentuch gleich, und bewahren sie in der Verborgenheit ihres Inneren.
Nicolò Stabile, selbst Überlebender und Gründer des Vereins Associazione Gibellina Parco Culturale ist der Impulsgeber eines visionären wie monumentalen Bestrebens, diesen Ort nicht dem Verfall preiszugeben, sondern ihn zu bewahren und dafür kollektive Kräfte zu mobilisieren. Seit Jahren engagiert er sich für den Erhalt der Kunst und der Gedenkstätte. So lud er 2024 den Fotografen Giuseppe Ippolito ein, die Überlebenden vor Ort zu porträtieren. Die als fortlaufender Prozess konzipierte Fotoaktion umfasst inzwischen 60 Porträts, von denen 34 gedruckt und erstmals im Rahmen der Gruppenausstellung Das Anwesende des Abwesenden gezeigt werden. Die Menschen, deren Gesichter wir sehen, gehören der letzten Generation an, die dieses für Sizilien und ganz Italien erschütternde Ereignis bezeugen kann.
Von den Fotos aus schauen sie uns an. Sie zucken nicht vor der Gewalt der Geschichte zurück, sondern treten als Individuen hervor. Sie erzählen der Schriftstellerin Giovanna Giordano ihre Geschichten, die in der Ausstellung in Auszügen zu lesen sind. Sie sind stolz darauf, dass Alberto Burri die Ruinen ihrer Häuser nutzte, um eines der wichtigsten Denkmäler der Welt und sein Meisterwerk zu schaffen. Ein lebendiger Ort der Landschaft, der Erinnerung, der Kultur.
Nicolò Stabile (*1966, Gibellina, IT) arbeitete in den 1980er Jahren in noch jungem Alter an der Seite von Ludovico Corrao (*1927, Alcamo, IT; †2011, Gibellina, IT), dem ehemaligen Bürgermeister von Gibellina, IT, am Wiederaufbau der Stadt nach dem Erdbeben von Belice von 1968. In den 1990er Jahren lebte und arbeitete er in Brüssel, BE, wo er als Dramatiker, Organisator, Pressesprecher und Übersetzer für verschiedene Theater, Festivals und Künstler:innen tätig war, darunter Kunstenfestivaldesarts, Brüssel (BE), Kaaitheater, Brüssel (BE), CharleroiDanses, Charleroi (BE) und Needcompany, Brüssel (BE). Zudem arbeitete er als Produzent für Thierry Salmon. Im Jahr 2000 kehrte Stabile nach Gibellina zurück, wo er die Compagnia Caterina Sagna leitete und zahlreiche Koproduktionen mit bedeutenden Institutionen wie dem Théâtre de la Ville, Paris (FR), Théâtre de la Bastille, Paris (FR), Festival d’Avignon (FR) und Biennale di Venezia (IT) realisierte. Von 2006 bis 2010 war er für die Öffentlichkeitsarbeit und das Ente Promozione Danza der Fondazione Romaeuropa, Rom (IT), sowie für das Programm am Teatro Palladium, Rom (IT) verantwortlich. Seit 2010 engagiert sich Stabile für den Erhalt und die Dokumentation des öffentlichen Kunstbestands der Stadt Gibellina, insbesondere des Cretto von Alberto Burri. In diesem Zusammenhang hat er mit Künstler:innen, Fotograf:innen, Regisseur:innen, Forscher:innen, Dramaturg:innen, Archiven, Universitäten und Institutionen zusammengearbeitet, um die Stadt Gibellina und ihre Widersprüche zu dokumentieren. Zu den Mitwirkenden zählen Thierry de Mey, Marzia Migliora, Petra Noordkamp, Elisa Giardina Papa, Onorato & Krebs, David Williams, Maya Bosch, Christian Lutz, Pablo Fidalgo, Alexander Rosenkranz, Istituto Svizzero, Rom (IT), Accademia Tedesca Villa Massimo, Rom (IT), Fondazione Sandretto Re Baudengo, Turin (IT) und Archivio Pietro Consagra, Gibellina (IT).
Giuseppe Ippolito (*1987, Novara, IT) ist ein italienischer Fotograf, der auf Porträt- und Reportagefotografie für die Verlags- und Werbebranche spezialisiert ist. Seine Reportagen wurden in nationalen und internationalen Publikationen veröffentlicht, darunter The Guardian, Vanity Fair, La Cucina Italiana, Business Traveller UK, The Creative Brothers, Athleta Magazine, Suq Magazine und Trentino Magazine. Ippolito ist im Bereich Food and Beverage als Fotograf von Celebrity Chefs bekannt und hat mit La Repubblica, Panorama, Dispensa Magazine und Fine Dining Lovers von San Pellegrino zusammengearbeitet. Im Jahr 2017 erhielt er eine besondere Erwähnung von der World Photography Organization und wurde in die Shortlist für den Preis Food Photographer Of The Year aufgenommen. Kürzlich erweiterte er sein Engagement auf die Erstellung von institutionellen Kampagnen für die Regione Sicilia, die SIAE (Società Italiana degli Autori ed Editori) und das MiBAC (Ministero per i Beni e le Attività Culturali). Ippolitos Eltern stammen aus Gibellina.
Giovanna Giordano (*1961, Mailand, IT) lebt in Catania, IT, wo sie Philosophie an der Accademia di Belle Arti unterrichtet und als Journalistin und Autorin arbeitet. Giordano ist bekannt für ihre Romane, die Leser:innen auf eine Reise von Sizilien zu anderen Orten außerhalb Italiens mitnimmt. Sie hat afrikanische Kunstgeschichte studiert und schreibt regelmäßig für Publikationen wie La Stampa, Il Giornale di Sicilia, Il Mattino und aktuell für La Sicilia. Giordano erhielt zahlreiche Preise wie den Premio Recalmare Sciascia für ihre Romane, darunter Trentaseimila giorni (1996), Un volo magico (1998) und Il mistero di Lithian (2004). 2020 stand sie auf der Shortlist für den Literaturnobelpreis. Ihr Werk Il profumo della libertà (2021; in deutscher Sprache 2023 erschienen, So viele Paradiese, Eichborn) war für den Premio Strega 2022 nominiert.