Paulo Nazareth – Aqui é Arte
03.06.2016 — 26.06.2016
Eröffnung: Donnerstag, 2. Juni, 19 Uhr im Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt.
Mit der Einzelausstellung Paulo Nazareth – Aqui é Arte war der Frankfurter Kunstverein anlässlich des Festivals Projeto Brasil im Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt, zu Gast. Anlass war die sechs monatige Schließung des Frankfurter Kunstvereins wegen Umbauarbeiten.
Der brasilianische Künstler Paulo Nazareth hat das Laufen zur Grundlage seiner künstlerischen Praxis gemacht: zu Fuß durchquert er Kontinente, überschreitet Grenzen und durchläuft ganze Territorien. Seine Arbeit basiert nicht auf der Produktion und Fertigstellung individueller Werke, sondern auf flüchtigen, temporären Spuren: Ephemera, welche die Bedeutung einer existenziellen Suche nach Identität erlangen. Er sammelt Notizen, Fotografien, Videos, persönliche Gegenstände oder Objekte, die er auf seinem Weg findet. Auf Flugblättern und Postern entwirft er Projekte und hält Erfahrungen und Begegnungen seiner Reise fest. In den eigenen Worten des Künstlers: „Die Möglichkeit, dass Leben geschieht, ist wundervoll. Das interessiert mich, die Zerbrechlichkeit des Lebens und die Unsicherheit.“
Die Forschung des Künstlers ist eine Assemblage verschiedener Reflektionen über die Querverbindungen von Völkern und Kontinenten, betrachtet im Lichte ihrer kulturellen Wurzeln und einer zugleich poetischen und politischen Vision entsprechend. Eine wesentliche Bedingung von Nazareths Forschung und künstlerischem Wirken ist seine multi-ethnische Herkunft, ein Merkmal vieler Einwohner Brasiliens. Auf mütterlicher Seite ist Nazareth im indigenen Brasilianischen Volk verwurzelt, während er auf väterlicher Seite afrikanischer (aus der Zeit der Sklaven-Deportationen) und italienischer (aufgrund der Europäischen Migrationen im frühen 20. Jahrhundert) Herkunft ist. Selbst die Sprache seiner Schriften spiegelt diesen Mix aus Einflüssen und Kulturen wieder, indem verschiedene Stile und Sprachen, hauptsächlich jedoch Portugiesisch, Spanisch und Englisch, miteinander verschmelzen. In seinen fotografischen Arbeiten zeigt er sich häufig mit Schildern aus Karton, auf welchen Botschaften wie „We have a right to this country“ oder „My image as exotic man for sale“, aber auch Angebote wie „I clean your bathroom for a fair price“ geschrieben stehen.
Nazareth zählt zu den Künstlern, die sich mit sozialen und politischen Themen auseinandersetzen und hat ein genaues Gespür dafür, was um ihn herum geschieht. Zur Zeit der Ausstellung stand Brasilien vor politischen, wirtschaftlichen und sozialen Härten: Die damalige Präsidentin Dilma Rouseff war vom Dienst suspendiert worden, mehrere Minister der Übergangsregierung standen unter Korruptionsverdacht, zeitgleich führten Armut, soziale Ungleichheit und der Unmut über die politischen Verhältnisse regelmäßig zu Unruhen. Paulo Nazareths Werk erlaubt einen spezifischen Einblick in die vielschichtige Situation der brasilianischen Gesellschaft. Seine künstlerische Arbeit bezieht sich auf die ethnisch gemischte Bevölkerung Brasiliens und die komplexe Geschichte seines Landes.
Mit der offiziellen Aufhebung der Sklaverei 1888 war Brasilien das letzte amerikanische Land in dem die Sklaverei abgeschafft wurde. Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert wurden ca. 10 bis 12 Millionen Menschen aus Afrika in die neue Welt verschleppt. Davon gelangten etwa 3.650.000 Menschen nach Brasilien. Die Dunkelziffern der systematischen Deportation sind jedoch erheblich höher. Das Trauma von 400 Jahren millionenfacher Deportation und Versklavung wirkt nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent nach, sondern auch in den südamerikanischen Ländern, wie Brasilien. Bis heute hat die Geschichte der afrikanischen und indianischen Versklavung in Brasilien Auswirkung auf die dortige Gesellschaft: Die nicht weiße Bevölkerung Brasiliens leidet weiterhin unter massiver Rassendiskriminierung. Die systematische Ablehnung der afro-brasilianischen Bevölkerung führt noch immer dazu, dass eine erkennbare afrikanische Physiognomie als psycho-soziale Belastung erlebt wird. Die Hautfarbe ist auch heute noch ein Hauptfaktor für die soziale Schichtung.
Die Ausstellung wurde mit drei Schwerpunkten kuratiert. Den Auftakt bildete das Begegnungsprojekt Bureaux de Langue. Auf Einladung des Frankfurter Kunstvereins machte Nazareth mit diesem Projekt Station in Frankfurt. Hierbei handelte es sich um eine performative Installation, bei der ein einfacher Arbeitsraum der Öffentlichkeit zur Verfügung stand, in dem sich Wörterbücher in zahlreichen Sprachen und ein Schreibtisch befanden. Eine Person lud BesucherInnen ein, sich ihr gegenüber an den Schreibtisch zu setzen. Für Frankfurt fokussierte Nazareth auf die damals neue Situation der großen Einwanderungswelle syrischer Kriegsflüchtlinge nach Deutschland. Mit dem Frankfurter Kunstverein suchte er nach jungen syrischen Kunstschaffenden, die das Projekt für ihn in Frankfurt umsetzen würden. Gewonnen wurde Alina Amer, eine junge Bildhauerin und Installationskünstlerin, die erst vor einem Jahr nach Deutschland gekommen war und sich für das Projekt beworben hatte. Nazareth gab nur das Setting für die Realisierung der Arbeit vor, die Umsetzung und Artikulierung überlies er bewusst der Künstlerin vor Ort. Ohne gemeinsame sprachliche Ebene ging es darum, sich über Gefühle von Fremdheit und Sprachlosigkeit auszutauschen und diese zu überwinden. Alina Amer gelang es, in einem ständigen Prozess der Sprachfindung mit Hilfe von Wörterbüchern, Skizzen und nonverbaler Kommunikation einen menschlichen Austausch über Sprachbarrieren hinaus zu finden. Paulo Nazareth entwickelte diese Arbeit aus einem Workshop mit Kindern in Brasilien, bei dem sie gemeinsam Sprachwendungen aus der indigenen Sprache zu übersetzen versuchten. Die Installation ist seitdem mehrmals ausgestellt worden und verändert sich immer mit dem jeweiligen Ort und der dortigen Sprachgemeinschaft.
Den zweiten Schwerpunkt der Ausstellung bildete eine umfassende Auswahl von Nazareths Arbeiten aus den zentralen Serien seiner Schaffensepochen. In der frühen Serie Aqui é Arte (2005-2007) kombinierte Nazareth Fotografien, Bilder, Koordinaten von Orten und kurze Erfahrungsberichte. Produkte wie einfache Papierbögen, „konzeptuelle Dekrete“ (wie der Künstler sie nennt), offenbaren eine künstlerische Praxis, die auf der Idee des „objet trouvé“ basiert und sind Fragmente der realen Welt, die durch die Intention und Vision des Künstlers zur Kunst erhoben werden.
In der Serie Cara de Indio (2011) spürt Nazareth seinen ethnischen Merkmalen im Vergleich zu indigenen Menschen in Amerika nach, indem er dazu auffordert, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Gesichtszügen zu betrachten.
Das bekannteste Projekt in der Karriere des Künstlers ist seine Wanderung von Brasilien nach New York, welche er nach zwei Jahren mit dem Waschen seiner Füße im Hudson River vollendete (Noticias de America, 2011-2012). Das Laufen ist die ursprüngliche Anstrengung aller lebenden Wesen, die Reise ein Zustand der physischen und symbolischen Mobilität oder auch eine auferlegte Erfahrung, die aus dem Zwang zur Flucht aus dem eigenen Land, vor Hunger und Krieg, entsteht. Aus dieser Serie zeigen die Bilder Nazareths seinen besonderen Blick auf Migration, Globalisierung und eine postkoloniale Gesellschaft.
Der dritte Schwerpunkt der Ausstellung wurde dem jüngsten Projekt Nazareths gewidmet. Für die fotografische Serie Cadernos de Africas (2014) wandert er immer wieder Strecken durch Afrika und Brasilien und dokumentierte seine Eindrücke fotografisch. Er ging im Süden Afrikas durch Zimbabwe, Namibia, Botswana und Mosambik, später wanderte er durch Nigeria und Benin im Westen Afrikas. Die Eindrücke dieser Reisen stellte er egalitär neben Fotografien seiner Wanderungen durch Brasilien (Salvador, Belo Horizonte, Sao Luiz, Rio de Janeiro), Buenos Aires, Paraguay und Argentinien. Schnappschussartige Szenen zeigen Menschen, Straßenzüge oder Landschaften als Reflexion über postkoloniale Verhältnisse auf zwei Kontinenten. Immer wieder taucht er selbst als bildnerische Vergewisserung in seinen Fotografien auf, manchmal hält er kommentierende oder fragende Schilder dazu ins Bild.
Für Außenstehende werden die Grenzen aufgelöst, der Vergleich erschwert, weil es durch die Vermischung der Fotografien aus unterschiedlichen Ländern schwer nachvollziehbar wird, an welchem Ort diese aufgenommen wurden. Nazareth stellt Beziehungen her, keine Hierarchien. So wie er allen Orten mit einem wachen Blick begegnet, fordert er auch die BesucherInnen dazu auf, aufmerksamer hinzusehen und sich nicht von der Leichtigkeit der Aufnahmen täuschen zu lassen.