Perception is Reality: Über die Konstruktion von Wirklichkeit und virtuelle Welten

07.10.2017 — 07.01.2018

Teilnehmende KünstlerInnen: Thomas Demand, Alicja Kwade, Marnix de Nijs, Hans Op de Beeck, David OReilly, Manuel Roßner, Bayerisches Landeskriminalamt, Christin Marczinzik & Thi Binh Minh Nguyen und Toast
Kuratiert von: Franziska Nori

Der Frankfurter Kunstverein präsentierte die thematische Gruppenausstellung Perception is Reality – Über die Konstruktion von Wirklichkeit und virtuelle Welten. Die eingeladenen KünstlerInnen untersuchten die neuen Bedingungen der menschlichen Wahrnehmung im Verhältnis zu technisch konstruierten Wirklichkeiten. Als eines der ersten Ausstellungshäuser in Deutschland integrierte der Frankfurter Kunstverein ein neues zukunftweisendes Medium, Virtual Reality, in eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Die Ausstellung präsentierte eine Auswahl an analogen und digitalen Kunstwerken, Virtual-Reality-Arbeiten aus der aktuellen Kunstproduktion, konzeptionelle Fotografie, Rauminstallationen, Applikationen aus der technischen Forensik sowie innovative Games. In der räumlichen Gegenüberstellung entstand für das Publikum ein Gedankenexperiment zur Frage nach den geistigen, emotionalen und ästhetischen Auswirkungen artifizieller Bildwelten.

Die Ausstellung stellte die Frage nach den grundlegenden Bedingungen von Wahrnehmung heute und wie wir unsere Auffassung von Wirklichkeit daraus konstruieren. Technologische Systeme haben Menschen, Daten und Prozesse immer enger miteinander vernetzt. Immersive Technologien werden zunehmend die analoge Umgebung mit virtuellen Datenräumen ersetzen und somit radikal die Art und Weise verändern, wie wir sozial interagieren, arbeiten und wie wir unsere Freizeit gestalten. Bis vor kurzem weitgehend Experten vorbehalten, bergen VR-Technologien das Versprechen, den AnwenderInnen in eine erweiterte Realität, eine digital hergestellte Umwelt eintauchen zu lassen und sie in eine 360°, zeit- und ortsunabhängige Illusionsperspektive einzubinden. Sie beabsichtigen eine möglichst distanzlose Wahrnehmung, eine sensorische und emotionale Einbeziehung der NutzerInnen, die durch Datenbrille und Kopfhörer von der realen Außenwelt weitestgehend isoliert sind, um sich dann in der virtuell hergestellten Wirklichkeit zu bewegen und in dieser zu handeln.

Welche Industrien werden die Potentiale dieser virtuellen Erlebnisräume weiterentwickeln und mit welcher Intention? Es stellt sich die Frage nach der Einflussnahme auf die BetrachterInnen. Wer konzipiert und gestaltet den Inhalt einer virtuellen Erfahrung? Welche emotionalen und geistigen Erlebnisse sollen ausgelöst werden? Auch wenn die Aktionen im virtuellen Spektakelraum ohne reale Konsequenzen bleiben – von kriminellen Straftaten bis körperlichen Grenzerfahrungen – produzieren die Erlebnisse im menschlichen Gehirn eine Erlebnisintensität, die als real wahrgenommen wird und sich in der neuronalen Struktur des Individuums als neue Kategorie des menschlichen Erlebnisspektrums und folglich als Gedächtnis dauerhaft verortet. Welche Herausforderungen entstehen für unser Gehirn, wenn immer mehr technisch produzierte, virtuelle Welten in unserem Leben eine Rolle spielen? Wie echt sind unsere Bilder, wie echt unsere Erfahrungen? Durch welche Wahrnehmungen konstruiert unser Gehirn (s)eine Idee von Wirklichkeit? Welche Parameter müssen Bilder also erfüllen, damit sie vom Menschen als real akzeptiert werden?

Durch Gegenüberstellung von analoger Gegenwartskunst und Virtual-Reality-Positionen entstand ein Parcours im Frankfurter Kunstverein, der grundlegende Überlegungen um das Verhältnis zwischen Wahrnehmung, Bewusstsein und wissensbasierter Vernunft aufstellte und danach fragte, welche Vorstellung von Welt wir daraus ableiten. Die eingeladenen KünstlerInnen und EntwicklerInnen schafften analoge und virtuelle Räume, in denen die BetrachterInnen körperliche und geistige Erfahrungen machen konnten. Mit ihren Sinnen erfuhren sie die Räume und loteten in den konstruierten Bildwelten die Grenzen von Annahme, Illusion und Wirklichkeit aus. Die Ausstellung öffnete einen Gedankenraum, um über das komplexe Verhältnis zwischen den Bedingungen der Wahrnehmung, daraus entstehenden Konstruktionen und der Idee von Wirklichkeit angesichts der technologischen Innovation über immersive VR-Technologien nachzudenken.

 

TEILNEHMENDE KÜNSTLER

Die Ausstellung beginnt mit einer Arbeit von Manuel Roßner (*1989). Roßner hat die Architektur des Frankfurter Kunstvereins digital nachmodelliert, die Wirklichkeit repliziert und um fiktive Elemente erweitert. Mit der Sicht durch die VR-Brille betritt der Besucher die Replik des realen Raums, in dem er sich befindet und in dessen fiktiver Dopplung er nun verändert wahrnehmen und agieren wird. Im virtuellen Raum befindet sich eine gewaltige skulpturale Form: ein Kubus mit unbestimmtem Aggregatszustand, quecksilberartig. Er bricht durch die Decke, verflüssigt sich, ergreift und flutet mit einer Explosion den gesamten Erlebnisraum. Standort, Zeitablauf und Verhalten des flüssigen Materials kann der Benutzer über den Controller bestimmen. Roßner nutzt Physiksimulationen, Software und wissenschaftliche Datenbanken aus dem Internet, dies sind seine Werkzeuge, um das Verhalten der Materie im Raum zu gestalten. Er verwendet Simulationstools und programmiert visuelle Effekte, bei denen die Materie sich zwar nach physikalisch exakten Parametern verhält, doch vom Künstler frei kombiniert und gestaltet wird. Die Bildwelten Roßners folgen keiner Narration. Sie sind reines Erleben von Farbe, Form und Materie im Raum. In diesem kontrollierten, artifiziellen Bildraum bestimmt der Künstler die Eigenschaften von Materialien neu, er schafft Plastiken indem er physikalische Parameter anders kombiniert und schafft somit unerwartete ästhetische Simulationsszenarien.

Im Untergeschoss des Frankfurter Kunstvereins befindet sich das Videogame „Everything“ des Künstlers und Spielemachers David OReilly (*1985). Die international mit Preisen ausgezeichnete Arbeit ist eine Art Erfahrungssimulator, die es dem Nutzer ermöglicht in einer minimalistisch gestalteten Welt wechselnde Perspektiven einzunehmen – von einer Zelle, Tieren, einem Lichtpartikel, einem ganzen Kontinent oder einer Galaxie im Weltall. Die Arbeit beruht auf den Erkenntnissen des britischen Philosophen Alan Watts, der den anthropozentrischen Blick – also die menschliche Auffassung, Mittelpunkt der weltlichen Realität und nicht Einheit mit der Natur zu sein – in Frage stellt. „Everything“ ist nicht linear aufgebaut und läuft endlos. Es stellt dem Benutzer keine Aufgaben und verlangt nach keinem Erfolgsziel. Vielmehr handelt es sich um eine Reise ohne festen Parcours durch eine unbegrenzte Welt, die fernab von einem Anspruch auf Realismus einen poetischen, philosophischen und ganzheitlichen Blick auf Zeit und Existenz richtet.

Gänzlich analog schafft Hans Op de Beeck (*1969) mit seiner Installation „The Garden Room “ einen immersiven Raum, eine fiktive Parallelwelt. Für die Ausstellung produziert Op de Beeck einen Raum im Raum, eine naturgetreu konstruierte, in monochromen Grau gestaltete Parallelwelt. Bild und Spiegelbild sind ein bestimmendes Motiv der Arbeit. Wie eingefroren stehen Figuren im Raum, ein Wasserbecken aus Glas, Diwans zum Verweilen. Spiegelwände erweitern den realen Raum in eine konstruierte Unendlichkeit. Alles verharrt in skulpturaler Starre, nur der Betrachter bewegt sich in diesem „hortus conclusus“ wie in einem verdichteten Erinnerungsraum. Gänzlich ohne VR-Technologie lässt der Künstler die artifizielle, immersive Welt entstehen. Op de Beecks Skulpturen und Rauminstallationen sind begehbare Landschaften, artifizielle Bühnen in realistischem Stil. Der Künstler devitalisiert das Bild und die Figur. Er schafft dreidimensionale Stillleben im Raum, deren Motiv die Abwesenheit und der Stillstand der Zeit sind.

In räumlicher Nähe zu Op de Beeck befindet sich die Arbeit „Swing“ von Christin Marczinzic (*1988) & Thi Binh Minh Nguyen (*1987). Die VR-Installation nutzt eine Schaukel als Steuerungselement. Mit der Datenbrille erlebt der Benutzer eine artifizielle Landschaft fernab der begrenzenden Wände des Ausstellungsraumes. Je schneller der Betrachter schaukelt, desto höher reicht der Blick über eine Bildwelt, die keinen Realismus beansprucht, sondern die bemalte Papiercollage als ästhetisches Merkmal nutzt. Die VR-Arbeit setzt an der Körper-Geist Trennung an – der Gleichgewichtssinn beim Schaukeln verortet den eigenen Körper im Raum und gleichzeitig wird die visuelle Wahrnehmung von der realen Umwelt vollständig entkoppelt und mit einer sichtbar konstruierten Bildwelt ersetzt. Durch die Gleichschaltung von Bewegung und Bild entsteht aber trotz Abstraktion eine plausible Illusion. Die Arbeit nutzt bewusst das Motiv des Schaukelns, das seit der Antike für den Wunsch nach Überwindung der Schwerkraft, nach Loslösung von der realen Welt steht und scheint dies als offene Metapher auf die Möglichkeiten von Virtual Reality zu beziehen.

Das Virtual-Reality-Spiel „Plank Experience“ von Toast treibt das Phänomen der Trennung von Körper und Geist (body/mind split) ins Extreme. Mit der VR-Brille findet sich der Ausstellungsbesucher in einer Großstadt wieder. Er begibt sich in einen virtuellen Aufzug. Die Tür öffnet sich in 160 Metern Höhe über einer Skyline. Nun findet eine Doppelung statt. Der Nutzer wird im virtuellen Raum aufgefordert, auf dem Holzbrett über der Tiefe zu balancieren. Im realen Raum kann er ein Brett unter seinen Füßen ertasten und den Wind aus einem Ventilator körperlich wahrnehmen. Der Betrachter weiß um die Illusion und trotzdem reagieren das Gehirn und der Körper augenblicklich mit Höhenangst. Die Game-Applikation findet auch im therapeutischen Bereich, zur Überwindung von Akrophobie, Einsatz. Die Akzeptanz, die Simulation als Wirklichkeit zu erleben, geschieht im Gehirn bereits durch wenige Faktoren. Der Verstand wird überlistet, Realität mit Illusion ersetzt. Es entstehen konstruierte Erfahrungen, die heftige emotionale und körperliche Reaktionen im Betrachter auslösen und die, so neurowissenschaftliche Studien, sich im Gedächtnis sogar als real verorten.

Die Frage um den Realitätsgrad von Bildern ist das zentrale Thema der Arbeit von Thomas Demand (*1964). Im Frankfurter Kunstverein stellt er seine neueste Arbeit „Patio“ aus. In der für Demand kennzeichnenden Praxis stellt die Fotografie eine im Maßstab eins zu eins rekonstruierte Wirklichkeit dar. Der Bezug ist aber nicht das Abbild der Realität, nicht ein Ausschnitt der realen Welt, sondern die Rekonstruktion im Atelier mit Papier und Pappe des massenmedialen Bildes einer öffentlich bekannten Begebenheit. Demand rekonstruiert das Bild eines Geschehnisses so wie es medial in unserem Bewusstsein eingeprägt ist. Es entsteht ein tautologischer Denkkreis. Das Bild erhebt einen Realitätsanspruch für sich. „Patio“ stellt Details aus dem Hinterhof des Hauses nach, das einem der meist gesuchten Männer Amerikas als Versteck diente: James „Whitey“ Bulger, der wegen 19-fachen Mordes, Erpressung und Bankraub auf der FBI Liste der meistgesuchtesten Täter stand. Das Bild entzieht sich vollkommen jeglicher Erwartung von Spektakel und Sensationslust, jeglicher Darstellung von Gewalt oder einer Handlung, sodass letztlich ein Raum der Imagination entsteht.

In räumlicher Gegenüberstellung erleben die Besucher Applikationen aus der Abteilung „Zentrale Fototechnik und 3D-Tatortvermessung“ des Bayerischen Landeskriminalamt München. Erstmalig für die Öffentlichkeit werden digitale Visualisierungen und Darstellungen realer Tatorte in VR zugänglich gemacht. Sie ermöglichen es, digital erfasste Tatorte virtuell zu begehen, sie orts- und zeitunabhängig zu untersuchen und dabei jede erdenkliche Position – von Nahansichten zu Panoramaeinstellungen – einzunehmen. Die Bilder entstehen, indem bildgebende Techniken und Methoden kombiniert werden. Sie dienen dem Zweck einer wissenschaftlich genauen Mess- und Nachvollziehbarkeit. Das Material muss für gerichtliche Zwecke juristisch belastbar sein. Weitere präsentierte Applikationen stammen aus dem Kontext forensischer Medizin. Digital werden die Auswirkung von Gewalt auf Körper erfasst, in der Zeit fixiert und durch VR-Brillen als Außen- und Innansicht zugänglich gemacht, um Tatspuren zu analysieren. Die technischen Bildwelten entstehen mit dem Diktat exakter Wirklichkeitsabbildung. Die Auswirkung von Gewalt ist hier real zu sehen, keine medial aufbereitete Fiktion. Diese Visualisierung von Daten und Informationen in verdichteten Bildräumen haben bereits begonnen, unser Sehen nachhaltig zu verändern. Die Ausstellung im FKV ermöglicht zum ersten Mal die Einsicht in dieses ansonsten nur für Behörden zugängliche visuelle Material.

Marnix de Nijs (*1970) ist ein Medienkünstler der ersten Stunde und präsentiert die Arbeit „Run Motherfucker Run“. In der interaktiven Installation muss der Nutzer auf einem Laufband vor einer Projektion rennen. Nur durch seine körperliche Aktion löst er unterschiedliche Szenarien aus und entscheidet darüber, welchen Weg er einschlagen will. Die Projektion zeigt eine Kombination aus Film und 3D-Bildern eines düsteren urbanen Rotterdams. Das Gefühl auf der Flucht zu sein, ist tragendes Element der Erfahrung und versinnbildlicht den immanenten Moment der Gefahr. Hält er unmittelbar seinen Lauf an, schleudert ihn das weiterlaufende Band zu Boden. Der Nutzer wird durch die technische Übertragung seiner Bewegungen zu seinem eigenen Interface. Ganz im Sinne des Medientheoretikers Marshall McLuhan ist das Laufband bei Marnix de Nijs die Ausweitung des menschlichen Körpers. Darüber hinaus zielt die Installation auf eine körperliche Erfahrung zwischen den Welten, zwischen digital und analog, geistig und körperlich oder auch zwischen dem Sehen und Gehen. Wer treibt wen bzw. was an und lässt sich zwischen Ursache und Effekt im Verhältnis zwischen Mensch und Maschine noch trennscharf unterscheiden.

Alicia Kwade (*1979) präsentiert eine für den Frankfurter Kunstverein neu produzierte Installation, die den Leitfaden der Ausstellung aufnimmt und aus konzeptuell-skulpturaler Perspektive beleuchtet. Das Werk kreist um die Auseinandersetzung zeitgenössischer Kunst mit Material und seiner digitalen Transformation. Die Rauminstallation ist dominiert von einer partiell bearbeiteten Granitskulptur. Der natürliche Stein wurde mit 3D-Scannverfahren erfasst, die digitalen Daten der Oberflächenvermessung an eine Fräsmaschine übertragen, die eine exakte Kopie des Originals erstellte. Während des Fräsprozesses hält die Künstlerin den Bearbeitungsprozess an. Es entsteht eine Skulptur, die in einem Zustand zwischen natürlicher und technologischer Form verharrt. An den Wänden gehängt, auf dem Boden gestapelt und in Kupfer-Time-Capsules versiegelt, befinden sich 30.000 Blatt Programmcode: die technische Oberflächenvermessung des originären Steines und letztlich wiederum eine Abbildung. Kwade nimmt sich sowohl als Schöpfer als auch in der Ausführung der Form aus dem Prozess heraus. Die Natur gibt vor, die Maschine tastet ab, vermisst und formt nach. Betrachtung allein lässt keine eindeutige Auslegung zu und lässt den Betrachter im Zweifel, über das, was wir zu sehen glauben, das was wir wahrnehmen: ob es die Wirklichkeit ist, die synthetisch erscheint, oder das Synthetische, das real anmuten will.

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