Arcangelo Sassolino. Mechanismen der Gewalt
19.02.2016 — 17.04.2016
Eröffnung: 18. Februar 2016, 19 Uhr
Mechanismen der Gewalt
Unter dem Titel „Mechanismen der Gewalt“ präsentierte der Frankfurter Kunstverein eine Doppelausstellung mit ausgewählten Arbeiten der Performancekünstlerin Regina José Galindo und des Bildhauers Arcangelo Sassolino. In unterschiedlichen Themenfeldern verortet und durch verschiedene Praktiken gekennzeichnet, vereinten Galindo und Sassolino in ihrem künstlerischen Ansatz das Ausloten der Grenzen der Kunst und die Beschäftigung mit der Frage nach Formen der Gewalt in unserer Gesellschaft.
Die Auswirkungen von physischer Gewalt und Machtverhältnissen auf den Körper, sowohl auf den individuellen als auch auf den sozialen, sind das zentrale Thema der kompromisslosen Performances von Regina José Galindo. Galindo setzt ihren eigenen Leib physisch und psychisch extremen Situationen aus. In manchen Performances erschafft sie Metaphern, in anderen unterzieht sie ihren Körper stellvertretend historisch stattgefundene Gewalttaten.
Die eingesetzten Materialien in den Skulpturen von Arcangelo Sassolino, hingegen, werden durch mechanische und hydraulische Kräfte an die Grenzen ihrer Widerstandsfähigkeit gebracht, bis hin zu ihrer potentiellen Entfesselung und dem damit verbundene Risiko der Zerstörung. Sassolino benutzt in seinen mechanisch präzisen Objekten und Installationen industrielle Materialien und Komponenten. Unter extremer Spannung oder gewaltigem Druck ist das Risiko der Freisetzung der Skulpturen innewohnenden Kräfte allgegenwärtig. Doch sein Werk geht über das Ausloten physikalischer Grenzsituationen weit hinaus. Es hinterfragt die Essenz der Skulptur und deren Prinzipien, wie Bewegung und Lebendigkeit mit den Möglichkeiten fester Materie in skulpturalen Formen Ausdruck finden kann. Gleichzeitig stehen seine Arbeiten immer auch als Metaphern für die menschliche existentielle Bedingung. Die Skulpturen befinden sich in der Schwebe zwischen zwei Zuständen, dem Vorher und dem Danach einer fundamentalen Veränderung, eines Bruchs, einer Zerstörung. Seine Werke betrachten den Moment, vor dem eine essentielle Veränderung stattfindet. Als BetrachterIn erwartet und fürchtet man den Übergang einer Form in die nächste und betrachtet die Potenzialität des Umbruchs, des Moments, in dem unwiederbringlich ein Gleichgewicht zerstört geht.
Gewalt ist untrennbar mit Macht verbunden – egal ob körperliche oder seelische, spontane oder organisierte Gewalt, ob im politischen Umfeld oder im privaten Raum. Sie dient als Instrument, um bestehende Machtverhältnisse aufzubrechen, zu stärken oder zu verteidigen. Sowohl Galindo als auch Sassolino beschäftigen sich in ihren Werken mit grundlegenden Aspekten und Folgen von Gewalt.
Die räumliche Teilung der zwei monografischen Überblicksschauen vollzog sich durch die vertikale Achse des Gebäudes. Im Ausstellungsparcours ermöglichten die in der Gegenüberstellung entstandenen Verbindungen neue Blickwinkel auf die Werke beider Künstler. „Mechanismen der Gewalt“ war die erste umfassende Ausstellung der beiden Künstler in einer deutschen Institution. Speziell für diesen Anlass hatten beide jeweils eine neue Arbeit konzipiert: die Performance „Secreto de Estado“ von Regina José Galindo am Abend der Eröffnung und die Skulptur „Purgatory“ von Arcangelo Sassolino.
Arcangelo Sassolino
Das Ächzen von Holz, auf Stahl zersplitterndes Glas, ein explosiver Knall, dann wieder Bewegungslosigkeit und Stille: In seinen Skulpturen und Installationen bringt der italienische Bildhauer Arcangelo Sassolino die von ihm verwendeten Materialien an ihre Belastungsgrenzen. Den Werken zu Grunde liegen Fragen nach Existenz und Endlichkeit und deren prekäres Gleichgewicht, gleichzeitig aber fordert Sassolino den klassischen Begriff der Plastik heraus, indem er die Unveränderlichkeit fester Stoffe als Grundmaterial der Formgebung radikal zu überwinden versucht. In der Ausstellung „Mechanismen der Gewalt“ im Frankfurter Kunstverein wurde eine Auswahl monumentaler Werke präsentiert, die einen Einblick in die künstlerische Praxis von Sassolino gaben. Speziell für die Ausstellung realisierte der Künstler eine neue Arbeit mit dem Titel „Purgatory“ (2016).
Sassolino entwirft mechanisch präzise und materiell dichte Skulpturen und raumgreifende Installationen. Die verwendeten Materialien entlehnt der Künstler aus der Großindustrie, weshalb sie meist sachlich und funktional scheinen. Zunächst minimalistisch inszeniert, werden Stoffe wie Glas, Stahl, Beton und Stickstoff durch gewaltige Kräfte beeinflusst und verformt. In einem Wechselspiel aus Energieherstellung und -verbrauch, Spannung und Widerstand treten sie in einen Wettstreit mit den physikalischen Kräften, die unsere Welt im Gleichgewicht halten. Es sind diese Kräfte, die den Künstler fesseln, denn sie sind die elementaren Wirkmechanismen aller Dinge, unseres Planeten und des gesamten Kosmos.
Um größtmögliche Präzision zu erreichen, berechnet Sassolino seine Objekte in Zusammenarbeit mit Maschinenbauern, Physikern und Mathematikern. Die neue Funktionalität der Skulpturen bestimmt dabei ihre Form. Die Materialien werden durch Schwerkraft, Druck oder Spannung an die Grenzen ihrer Widerstandsfähigkeit gebracht, wodurch sich ihr Zerstörungspotential jederzeit entladen könnte. Durch einen Restgehalt an Unkalkulierbarkeit treffen in Sassolinos Arbeiten Kontrolle und Risiko aufeinander: Seine Grenzgänge bergen jederzeit die Gefahr, urplötzlich Kräfte zu entladen. Immer wieder halten seine die Maschinen inne; dann plötzlich setzt die Bewegung ein. Die von Sassolino konstruierten Prozesse bleiben über längere Zeitraum hinweg unsichtbar – die unmittelbar folgenden Aktionen sind jedoch gewaltig. Nicht selten entstehen in diesen Momenten der Handlung eindringliche akustische Phänomene.
Die Installation „Afasia 1“ (2008) lässt nur vage vermuten, was passieren wird, bevor Glas mit 900 km/h an eine Stahlwand geschleudert wird und dort zerbirst. „Afasia 2“ (2008) bleibt dagegen stetig im ruhenden Zustand und funktioniert als eine Reservekammer für gewaltige Mengen Energie: Das stählerne Gehäuse beinhaltet 250 Bar komprimierten Stickstoff. Das der Skulptur innewohnende Zerstörungspotential äußert sich vor allem im Verhältnis zum Betrachtenden, dessen Wahrnehmung sich durch das Wissen um die destruktive Kraft verändert.
Die eindringlichen ‚Skulpturen-Maschinen’ von Arcangelo Sassolino stellen ihre Prinzipien in Frage, indem sie die Möglichkeit der eigenen Zerstörung implizieren. Verfall bedeutet gleichzeitig die Freisetzung von neuen Energien, Zerstörung auch die Verwandlung in einen anderen Zustand. In Sassolinos künstlerischer Praxis liegt der Fokus weder auf der Schaffung von Kräften, noch auf der Destruktion von Materialien. Er verweigert sich einer binären Gegenüberstellung von Existenz und Endlichkeit. Trotz ihrer Masse und Stärke sind die Maschinen nicht unzerstörbar. Sie führen vielmehr die Möglichkeit des Werdens (Aktivierung) und des Endens (Destruktion) vor.
Biografie
Arcangelo Sassolino wurde 1967 in Vicenza, Italien, geboren, wo er lebt und arbeitet. Er präsentierte Einzelausstellungen im Contemporary Art Museum, St. Louis, USA (2016), im MACRO Museum, Rom, Italien (2011), im Palais de Tokyo, Paris, Frankreich (2008) und verwirklichte Projekte im öffentlichen Raum im Rahmen des Z33 House for Contemporary Art in Hasselt, Belgien (2010) sowie im Kontext von „Art and The City” in Zürich, Schweiz (2012). Sassolinos Arbeiten wurden in einer Reihe von Gruppenausstellungen gezeigt, darunter Ausstellungen im 104, Paris, Frankreich (2015), im Centro di Cultura Contemporanea Strozzina, Florenz, Italien (2012, 2010), im Swiss Institute, New York, USA (2011), Museum Tinguely, Basel, Schweiz (2010), im Autocenter, Berlin, Deutschland (2009), in der Peggy Guggenheim Collection, Venedig, Italien (2009), im Dunkers Kulturhus, Helsingborg, Schweden (2008), im FRAC, Reims, Frankreich (2007) und im ZKM, Karlsruhe, Deutschland (2004).