Regina José Galindo. Mechanismen der Gewalt

19.02.2016 — 17.04.2016

Eröffnung: 18. Februar 2016, 19 Uhr

Kuratorin: Franziska Nori; Co-Kurator: Eugenio Viola, Kurator am Museo d’Arte Contemporanea Donnaregina Napoli (MADRE)

 

Mechanismen der Gewalt

Unter dem Titel „Mechanismen der Gewalt“ präsentierte der Frankfurter Kunstverein eine Doppelausstellung mit ausgewählten Arbeiten der Performancekünstlerin Regina José Galindo und des Bildhauers Arcangelo Sassolino. In unterschiedlichen Themenfeldern verortet und durch verschiedene Praktiken gekennzeichnet, vereinten Galindo und Sassolino in ihrem künstlerischen Ansatz das Ausloten der Grenzen der Kunst und die Beschäftigung mit der Frage nach Formen der Gewalt in unserer Gesellschaft.

Die Auswirkungen von physischer Gewalt und Machtverhältnissen auf den Körper, sowohl auf den individuellen als auch auf den sozialen, sind das zentrale Thema der kompromisslosen Performances von Regina José Galindo. Galindo setzt ihren eigenen Leib physisch und psychisch extremen Situationen aus. In manchen Performances erschafft sie Metaphern, in anderen unterzieht sie ihren Körper stellvertretend historisch stattgefundene Gewalttaten.

Die eingesetzten Materialien in den Skulpturen von Arcangelo Sassolino, hingegen, werden durch mechanische und hydraulische Kräfte an die Grenzen ihrer Widerstandsfähigkeit gebracht, bis hin zu ihrer potentiellen Entfesselung und dem damit verbundene Risiko der Zerstörung. Sassolino benutzt in seinen mechanisch präzisen Objekten und Installationen industrielle Materialien und Komponenten. Unter extremer Spannung oder gewaltigem Druck ist das Risiko der Freisetzung der Skulpturen innewohnenden Kräfte allgegenwärtig. Doch sein Werk geht über das Ausloten physikalischer Grenzsituationen weit hinaus. Es hinterfragt die Essenz der Skulptur und deren Prinzipien, wie Bewegung und Lebendigkeit mit den Möglichkeiten fester Materie in skulpturalen Formen Ausdruck finden kann. Gleichzeitig stehen seine Arbeiten immer auch als Metaphern für die menschliche existentielle Bedingung. Die Skulpturen befinden sich in der Schwebe zwischen zwei Zuständen, dem Vorher und dem Danach einer fundamentalen Veränderung, eines Bruchs, einer Zerstörung. Seine Werke betrachten den Moment, vor dem eine essentielle Veränderung stattfindet. Als BetrachterIn erwartet und fürchtet man den Übergang einer Form in die nächste und betrachtet die Potenzialität des Umbruchs, des Moments, in dem unwiederbringlich ein Gleichgewicht zerstört geht.

Gewalt ist untrennbar mit Macht verbunden – egal ob körperliche oder seelische, spontane oder organisierte Gewalt, ob im politischen Umfeld oder im privaten Raum. Sie dient als Instrument, um bestehende Machtverhältnisse aufzubrechen, zu stärken oder zu verteidigen. Sowohl Galindo als auch Sassolino beschäftigen sich in ihren Werken mit grundlegenden Aspekten und Folgen von Gewalt.

Die räumliche Teilung der zwei monografischen Überblicksschauen vollzog sich durch die vertikale Achse des Gebäudes. Im Ausstellungsparcours ermöglichten die in der Gegenüberstellung entstandenen Verbindungen neue Blickwinkel auf die Werke beider Künstler. „Mechanismen der Gewalt“ war die erste umfassende Ausstellung der beiden Künstler in einer deutschen Institution. Speziell für diesen Anlass hatten beide jeweils eine neue Arbeit konzipiert: die Performance „Secreto de Estado“ von Regina José Galindo am Abend der Eröffnung und die Skulptur „Purgatory“ von Arcangelo Sassolino.

 

Regina José Galindo

Die guatemaltekische Künstlerin Regina José Galindo beschäftigt sich mit physischer oder psychischer Gewalt, die durch ungleiche Machtverhältnisse hervorgerufen wird. Ihr wichtigstes Mittel ist dabei ihr eigener Körper, den sie in ihren Aktionen zum politischen Körper erklärt. In ihren Performances schaffte sie eindringliche Bilder, die durch Fotografie und Video transportiert und somit über ihre Bindung an Ort und Zeit hinaus vermittelt werden. Bewusst setzt sie sich extremen Situationen aus und verhandelt damit die Relation zwischen aktiven und passiven Positionen in einem Machtgefüge. Sie bewegt sich zwar in der Tradition der Body-Art und KünstlerInnen wie Ana Mendieta, Marina Abramovic oder Wolfgang Flatz, kommt aber ursprünglich aus der Lyrik. Meist verfasst sie bereits im Vorfeld kurze Texte, welche als metaphorische Grundlage für ihre performativen Werke dienen oder den Kontext erläutern, aus dem heraus ihre Arbeiten entstanden sind. In der Ausstellung waren diese Texte als Wandtexte präsent, um Galindos Schreiben und ihrer Stimme Raum zu geben. Die Ausstellung gab einen Überblick über das Werk der Künstlerin, wobei die folgenden Schwerpunkte beleuchtet wurden.

Eine Geschichte der Gewalt: Guatemala

Regina José Galindo wuchs während des Bürgerkrieges in Guatemala (1960 – 1996) auf. Mehr als 200.000 Menschen fielen dem blutigen Konflikt, der zwischen linken Guerilla-Organisationen und der Regierung tobte, zum Opfer und mehrere Tausende flüchteten über die Landesgrenze. Galindo wurde in ihrem Schaffen stark durch die Unruhen in ihrem Land geprägt, die auch in den Jahren nach den 1996 unterschriebenen Friedensabkommen anhielten. Eines ihrer frühesten und gleichzeitig bekanntesten Werke ist „¿Quién puede borrar las huellas?, (dt. Wer kann die Fußspuren verwischen?), 2003. Die Performance war eine direkte Reaktion auf die Kandidatur von Efraín Ríos Montt für das guatemaltekische Präsidentenamt im Jahr 2003. Ríos Montt ist bereits 1982 durch einen Putsch Präsident und Diktator in Guatemala gewesen. Während seiner einjährigen Amtszeit war er verantwortlich für zahlreiche Massaker an der indigenen Bevölkerung und blieb jahrzehntelang straflos. In Erinnerung an die Opfer des bewaffneten Konflikts und als Protest gegen Montts Kandidatur läuft Regina José Galindo in der Performance vom Verfassungsgericht zum Nationalpalast in Guatemala City. Auf diesem Weg hinterließ sie symbolträchtige Spuren mit ihren in menschliches Blut getauchten Füßen. 2013 kam es endlich zu einem Prozess gegen Ríos Montt, der als erster Diktator weltweit im eigenen Land wegen Genozid angeklagt und verurteilt wurde. Dieses Ereignis war der Auslöser für eine Reihe neuer Werke der Künstlerin. Die Skulptur im Eingangsbereich des FKV zeigt den spanischen Schriftzug „ESTOY VIVA”, was übersetzt „Ich bin am Leben!” bedeutet. Die meisten Opfer des blutigen Konflikts in Guatemala waren Teil der indigenen Bevölkerung des Landes, darunter vor allem die Ixil-Ureinwohner. Ihnen wurde vorgeworfen, die marxistische Guerilla zu unterstützen, weshalb die Militärregierung versuchte, den Aufständischen durch eine Politik der „tierra arrasada“ (dt. Politik der „verbrannten Erde“) wortwörtlich den Boden zu entziehen. Proteste und Bestrebungen aus den Gemeinden der Ixil haben erst dazu geführt, dass der Gerichtsprozess stattfinden konnte. Im Zuge dessen fanden ihre Zeugenaussagen über die Ermordungen von Angehörigen, Vergewaltigungen und Folter Gehör. Aus dem Prozess stammt auch der Ausruf „Ich bin am Leben!“, der von Galindo in Eisen gegossen ist. Auch die Werke „La Verdad“ (2013) (dt. die Wahrheit) im Untergeschoss des Kunstvereins und „Tierra“ (2013) (dt. Erde) thematisieren den Kampf gegen das Vergessen einerseits und den Kampf für Gerechtigkeit andererseits.

Macht durch Gewalt: Der Feminizid

Der Begriff Feminizid wurde eingeführt, um die Gewalt an Frauen aufgrund ihres Geschlechts benennen und fassen zu können. Zu Beginn der 2000er wurde angesichts der zunehmenden Gewalt an Frauen in Lateinamerika begonnen, den Feminizid als gesamtgesellschaftliches Problem zu diskutieren und die damit zusammenhängenden Strukturen von Macht zu thematisieren. Guatemala ist dabei eines der Länder mit der höchsten Mordrate an Frauen. Galindo greift diesen Diskurs wiederholt in ihren Arbeiten auf.

Die Werke „No perdemos nada con nacer” (2000) (dt. Wir verlieren nichts dabei, geboren zu werden) und „Perra“ (2007) (dt. Hure), die im ersten Obergeschoss gezeigt wurden, beleuchteten diese Thematik. Damit verbunden ist auch die Arbeit „Piel“ (2001) (dt. Haut), die auf Einladung von Harald Szeemann für die 49. Biennale von Venedig entstanden war. Jemanden seines Haares zu berauben, gilt als Mittel zur Demütigung und zur Markierung eines von der Gesellschaft zugewiesenen Außerhalbs. Galindo rasierte sich zunächst all ihre Haare vom Körper, dann lief sie nackt durch die Straßen Venedigs und lieferte sich den Blicken der Passanten aus. Dokumentiert hatte diese Aktion ihr Künstlerfreund Aníbal López, der selbst für seine politisch provozierenden Arbeiten bekannt ist. In den Jahren darauf begann Galindo verstärkt mit den Reaktionen der Besucher zu arbeiten und sich für die Position des Betrachters als aktiver Teil des künstlerischen Werkes zu interessieren.

Aktivität und Passivität

In vielen ihrer Werke bringt Regina José Galindo das Publikum und die Teilnehmer ihrer Performances, aber auch die Betrachter der Dokumentationen, in ambivalente Rollen. So zum Beispiel in ihrer Performance „Caparazón“ (2010) (dt. Panzer) in Neapel, im Volksmund als Stadt der Kuppeln bekannt: Galindo liegt nackt in der Fötusposition unter einer halbrunden Sphäre aus Plexiglas. Eine Gruppe von Menschen, die sich als Freiwillige gemeldet haben, schlägt mit Stöcken bewaffnet unerlässlich auf die Kuppel ein, bis ihre Waffen zu zerbrechen beginnen. Die Teilnehmer scheinen sich von ihrer Aggression steuern zu lassen und begeben sich in die Rolle des Täters. Galindo selbst liefert sich der Situation aus. Zwar scheint sie durch ihren Panzer geschützt, dieser kann jedoch jederzeit zerbersten. Im Hintergrund sind jene zu sehen, die der Performance beiwohnen und passive Zeugen einer Tat werden – genauso wie der Betrachter des Videos. Die aktive Handlung wird von Galindo zwar initiiert, aber von Teilnehmern ausgeführt, sodass die Performance eine Eigendynamik gewinnt. Galindo arbeitet bewusst mit ungenauen Übergängen zwischen passiven und aktiven Positionen, was dazu führt, dass grundsätzliche Fragen nach unserem Handeln aufgeworfen werden.

Der Körper als Skulptur

In ihren jüngsten Werken setzt Galindo ihren Leib verstärkt skulptural ein, indem sie meist regungslos bleibt. Am deutlichsten wird dies in den von ihr in Landschaften arrangierten Situationen, wie zum Beispiel „Mazorca“ (2014) (dt. Mais). Territorien und die Erde von Staaten sind nicht nur Boden für, sondern wesentlicher Bestandteil von Machtkämpfen. „Mazorca“ spricht dieses Thema gleich im doppelten Sinne an. Regina José Galindo steht in einem Feld – zunächst versteckt in den hohen Kolben. Um sie herum schneiden Männer den Mais mit einer Sense. Die Arbeit schafft einen historischen Bezug zu Zeugenaussagen aus dem Bürgerkrieg, in denen berichtet wird, wie die Felder als Grundlage für ein Überleben als Druckmittel von Truppen der Regierungen gezielt zerstört worden sind.

Heute wird auf den Maisfeldern ein anderer und globaler Kampf um Macht ausgetragen. Die Firma Monsanto entwickelte einen genveränderten Mais, der von den USA durch ein Gesetz zum Schutz der Gesundheit von Pflanzen unterstützt wird. Dies bedeutet für Bauern, dass sie ihren Mais nicht mehr selbst züchten dürfen, sondern jährlich patentiertes Saatgut einkaufen müssen. Guatemala unterzeichnete das als „Monsanto Law“ bekannte Gesetz unter dem Druck seiner Handelsbeziehungen zu den USA. Maßgeblich von Kleinbauern aus der indigenen Bevölkerung initiierte Protestaktionen führten jedoch im Jahr 2014 dazu, dass das Gesetz aufgehoben wurde. Regina José Galindo verschränkt in „Mazorca“ Vergangenheit und Gegenwart durch das Maisfeld und seine jeweiligen Bedeutungen.

Vom Verborgenen: „Secreto de Estado“

Im Rahmen ihrer Ausstellung im Frankfurter Kunstverein entwickelte Regina José Galindo eine neue Performance, die während der Eröffnung stattfand. Unter dem Titel „Secreto de Estado“ (2016) (dt. Staatsgeheimnis) liegt Regina José Galindo auf einer Tragbahre, gehalten von zwei Freiwilligen. Es tropft Blut von der Bahre auf den Boden. Was das Publikum nicht zu sehen bekommt: es stammt aus einer Blutkonserve, auf der Galindo rücklings liegt. Das Blut ist ihr eigenes Blut, welches ihr zuvor abgenommen wurde. Der Körper der Künstlerin befindet sich in angespannter Bewegungslosigkeit und offenbart dasjenige, was nicht zu sehen ist, nur nach und nach. Mit der Performance „Secreto de Estado“ formuliert Regina José Galindo einen Zweifel an dem, was wir zu wissen glauben. Sie verwendet darin ihren Körper als Metapher für einen politischen Körper: Er offenbart sich dem Publikum und damit einer Öffentlichkeit. Jedoch ist das, was wir sehen, eine Inszenierung, bei der das Sichtbare und die Realität des Geschehens voneinander abweichen. „Secreto de Estado“ ist eine Allegorie unserer Wahrnehmung von politischen Zuständen, die möglicherweise falsche Rückschlüsse und Konsequenzen nach sich zieht.

Biografie

Regina José Galindo wurde 1974 in Guatemala-Stadt geboren, wo sie lebt und arbeitet. Sie nahm teil an der 49. (2001), der 51. (2005), der 53. (2009) und der 54. Biennale in Venedig, Italien (2011) sowie an der 10. Sharjah Biennale, Vereinigte Arabische Emirate (2011), der 31. Pontevedra Biennale, Spanien (2010), der 17. Sydney Biennale, Australien (2010), der 10. Havanna Biennale, Kuba (2009), der 2. Moskau Biennale, Russland (2007), der 3. Auckland Triennale, Neuseeland (2007), der 4. Valencia Biennale, Spanien (2007), der 2. Prager Biennale, Tschechien (2005), der 3. Tirana Biennale, Albanien (2005) und der 3. Lima Biennale, Peru (2002). Sie erhielt den Goldenen Löwen der 51. Biennale in Venedig im Jahr 2005 in der Kategorie junge/r Künstler/in. Galindos Werk ist in zahlreichen bedeutenden Sammlungen zu sehen wie dem Centre Georges Pompidou, Paris, Frankreich, dem Solomon R. Guggenheim Museum, New York, USA, dem Castello di Rivoli – Museum of Contemporary Art, Turin, Italien, der Daros Latinamerica Collection, Zürich, Schweiz, dem Blanton Museum of Art, Austin, USA, dem Museum of Contemporary Art, San José, Costa Rica, dem Pérez Miami Art Museum und der Cisneros Fontanals Collection, beide in Miami, USA.

[i] Das Urteil wurde nur zwei Wochen später wieder aufgehoben. Die Wiederaufnahme verzögert sich wegen des gesundheitlichen Zustands von Ríos Montt bis heute.

 

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