Trees of Life – Erzählungen für einen beschädigten Planeten
10.10.2019 — 16.02.2020
Teilnehmende KünstlerInnen: Sonja Bäumel, Edgar Honetschläger, Dominique Koch, Studio Drift und Exponaten der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Eröffnung: Mittwoch, 09. Oktober 2019, 19 Uhr
Kuratorischer Text: Franziska Nori
Vom 10. Oktober 2019 bis zum 19. Januar 2020 präsentierte der Frankfurter Kunstverein in Kooperation mit dem Senckenberg Naturmuseum Frankfurt die Ausstellung Trees of Life – Erzählungen für einen beschädigten Planeten – ein interdisziplinäres Ausstellungsprojekt, das den Blick von einem historisch gewachsenen, anthropozentrischen Weltbild hin zu einem systemischen Verständnis des Menschen als Teil des evolutionären Prozesses führte.
Für die Ausstellung produzierten zeitgenössische KünstlerInnen Werke und Rauminstallationen und stellten diese in einen inhaltlichen Dialog mit wissenschaftlichen Exponaten aus den Sammlungen des Senckenberg Forschungsinstituts und Naturmuseums. Das Ausstellungsprojekt wurde von Podiumsdiskussionen begleitet, an denen SchriftstellerInnen, NaturwissenschaftlerInnen, PhilosophInnen sowie Ökonomen und Ökonominnen miteinander das thematische Spektrum diskutierten, erläuterten und ausloteten.
Die Ausstellung bespielte die gesamte Fläche des Frankfurter Kunstvereins. Eingeladen waren die KünstlerInnen Sonja Bäumel (Österreich, lebt und arbeitet in Amsterdam), Edgar Honetschläger (Österreich, lebt und arbeitet in Wien, Rom und Tokyo), Dominique Koch (Schweiz, lebt und arbeitet in Basel und Paris) und das Künstlerkollektiv Studio Drift (Niederlande, leben und arbeiten in Amsterdam). Jedem/r TeilnehmerIn ist ein eigener Raum gewidmet. Kuratiert wurde die Ausstellung von Franziska Nori (Leiterin des Frankfurter Kunstvereins) in Zusammenarbeit mit Philipe Havlik (wissenschaftlicher Berater aus dem Stab Zentrale Museumsentwicklung der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung). Die Ausstellung entstand nach mehrjähriger Vorbereitung, Planung und zahlreichen Gesprächen zwischen Volker Mosbrugger (Direktor des Forschungsinstituts und des Naturmuseums Senckenberg) und Franziska Nori. Während dieser Zeit stand immer wieder die folgende Frage im Raum: Wie kann man faktisches Wissen aus der Dimension numerischer Abstraktion in eine empfundene Wirklichkeit übersetzen? Die Annahme, dass Kunst und Wissenschaft gemeinsam die Fähigkeit besitzen, erweiterte Formen des Wissens in anderer Weise als zuvor bekannt erlebbar zu machen, hat die Ausstellungsidee hervorgebracht.
Gedanken zum Kontext der Ausstellung
Der menschliche Geist strebt danach, Bedeutung zu schaffen. Wir konstruieren ein fortlaufendes inneres System, welches über die Zeit Erfahrungen zu Wissen kristallisiert. In einer Wechselbeziehung zwischen Empfindung und kognitiver Situierung bilden wir Begriffe, eine Sprache, aber auch Bilder und Erzählungen, mit denen wir unser Verhältnis zur Welt, zu den Dingen und zu dem, was wir als real betrachten, fassen.
Unsere Realitätsvorstellungen sind gebunden an den jeweiligen Wissensstand einer Zeit und einer Kultur, die Überzeugungen zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig generieren sie Machtgefüge und moralische Kategorien. Schaut man aus einer zeitlichen Distanz auf diese Phänomene, kann man beobachten, wie wandelbar die Auffassungen über Realität sind. Letztendlich werden Geschichten, Narrative und Metaphern zu gesellschaftlichen Normen, die wiederum Regeln setzen und ganze Realitätsauffassungen manifestieren sowie Gesellschaftsmodelle erzeugen. Jede Zeit und jede Kultur hat ihre eigenen Erzählungen hervorgebracht, wieder verworfen, weiterentwickelt oder gar vergessen und neuentdeckt. Das Wissen ist situativ, stellt die Geschichtswissenschaftlerin Donna Haraway fest. Es entsteht aus einem spezifischen Umfeld, einem kulturellen und geschichtlichen Moment heraus, der sich prozesshaft ändert. Aufgrund unterschiedlicher Weltbilder werden Kriege geführt – in der Vergangenheit und der Gegenwart.
Es sind menschliche Narrative, es ist die anthropozentrische Sichtweise, mit der wir aus zentralperspektivischer Betrachtung Sinn konstruieren und uns in ein Gefüge einzuordnen versuchen. Die aristotelische Idee der Scala Naturae, von Charles Bonnet im 18. Jahrhundert zeichnerisch umgesetzt, steht am Anfang der Ausstellung Trees of Life – Erzählungen für einen beschädigten Planeten. Diese visuelle Metapher ist nur eine von zahlreichen, die das Gefüge des Lebens in ein Bild zu fassen versuchen. Die Scala Naturae, ein Stufenmodell der Natur, verdichtet das philosophische Weltbild der Antike, das Jahrtausende überdauerte und den Menschen als Bindeglied zwischen dem schöpferischen Göttlichen und dem Kreatürlichen erzählt. Descartes und die Aufklärung schufen erste Dualismen; sie formulierten Trennungen, durch die der Mensch einer objektivierten Welt, einer nun messbaren Natur, gegenüber steht. Die Natur wurde zu unbelebter Materie, die durch den menschlichen Geist und dessen Technik geformt werden kann.
Es ist das mechanistische Weltbild, das sich mit dem Aufkommen der westlichen Aufklärung durchgesetzt hat und die Verdinglichung der Welt vorangetrieben hat. Mit den Lehren René Descartes (1596–1650) und Galileo Galileis (1564–1641) setzte während des Übergangs vom 16. ins 17. Jahrhundert eine Quantifizierung der Welt ein, die über Beobachtungen und anhand mathematischer Regeln die Natur studierbar und somit die Mechanismen, nach der diese funktioniert, vorhersehbar macht. Um es mit den Worten des Schriftstellers Raoul Schrotts zu sagen: „die Behelfskonstruktion des Göttlichen überwunden, steht man vor den Ergebnissen einer Weltvermessung, in den Anmaßungen des Menschlichen…“ [Raoul Schrott, Erste Erde, Seite 21].
Letztendlich ergab dies eine Entzauberung der Welt, die einerseits eine Befreiung von Aberglaube und Angst bedeutete und gleichzeitig ein neues Verständnis der bereits bekannten Zusammenhänge ermöglichte. Andererseits wurde die Welt über Descartes Anschauung zu einem unbelebten Objekt, zu einer Maschine, die der Mensch studieren und beherrschen kann. Der Dualismus Mensch-Natur fand seinen Beginn. Die Metapher der Natur als Uhrenwerk stammt aus Descartes Zeiten. In dieser Zeit entstand auch ein Reduktionismus, der alles Lebende nicht als Gesamtheit betrachtete, sondern es in seine einzelnen Teile zerlegte, als ob die isolierte Betrachtung von Fragmenten und Phänomenen die Funktionsweise der Gesamtheit „Leben“ verständlich machen könne. Mechanistische Betrachtungsweisen der Natur prägten und prägen noch heute die westliche Geschichte und gewannen gegenüber anderen Narrativen die Oberhand.
Durch die Beobachtung und mathematische Beschreibung wiederkehrender Wirkmechanismen wurde die Welt zu einer Art deutbaren Maschine. Die Wissenschaft als Methode der Entschlüsselung von der Welt nahm somit ihren Lauf. Es dauerte Jahrhunderte, bis Beobachtungen unzähliger Wissenschaftler sich aus der großen, normativen Erzählung der Kirche lösen konnten und so in der westlichen Welt ein neues Zeitalter begann. Charles Darwin zögerte noch im Jahr 1837, wissend um die Übermacht kirchlicher Deutungshoheit, seine Tagebuchannotationen zu der Verzweigung evolutionärer Prozesse zu veröffentlichen.
Wissensohnmacht – Wie können wir herausfinden, was wir wissen müssen?
Heute befinden wir uns in einem historischen Moment, der von wissenschaftlichen, mathematischen und ökonomischen Sichtweisen und Deutungsmodellen geprägt ist. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir eine rasante Beschleunigung und das exponentielle Wachstum von erzeugtem Wissen in zahlreichen Forschungskontexten miterlebt. Dieses Wissen hat Wohlstand und Freiheit generiert, hat politische sowie soziale Systeme erzeugt, andere Systeme hat es hingegen gestürzt; es hat vielen Menschen Vorteile verschafft und gleichzeitig mindestens ebenso vielen geschadet.
Die Wissenschaft erschließt uns über Beobachtungen und Messungen ein umfassendes Verständnis von der Welt und ihren Zusammenhängen: Durch das Vergleichen, das Verknüpfen und das Erstellen von Hypothesen, aufgrund von Zahlen, Fakten, Messungen – heute unter dem Begriff „Big Data“ zusammengefasst -, die computergestützt erfasst werden und mit deren Hilfe Modelle berechnet werden können. Dieses Wissen ist von großer Bedeutung, um Erkenntnisse zu erlangen, um Zusammenhänge zu bilden und um die nicht sichtbaren Ideen einer größeren Kausalität denkbar zu machen. Und gleichzeitig gelingt es unserem Verständnis nicht, rein über Zahlen und Fakten, dieses Wissen auf die Subjektivität des Seins, an die Subjektivität des Individuums und dessen existentielle Erfahrung von Endlichkeit, für die Wissen sinnstiftend sein kann, zurückzuführen.
So erscheint zum Beispiel der Begriff „Ökosystem“ abstrakt und fern. Doch wie viele einzelne Existenzen, wie viele individuelle Schicksale, in welchen Zusammenhängen und in sich bedingenden Prozessen und Wechselwirkungen, sind in diesem Begriff tatsächlich aufgelöst? Es sind die Erzählungen über einzelne Schicksale und deren Verwobenheit mit dem Großen und Ganzen, die nach Ansicht von Donna Haraway oder Raoul Schrott die Abstraktion der großen Zahlen und Begriffe auf die Existenzen einzelner zurückbindet und zusammenfügt.
Haraway ist Biologin, die über die Jahre ihrer akademischen Karriere ihre eigenen Methoden mithilfe der Literaturwissenschaft, der Philosophie und der Anthropologie erweitert hat, um ein komplexeres Verständnis von Zusammenhängen in der heutigen Gesellschaft verstehen und beschreiben zu können. Praktiken, nach denen wissenschaftliche Fakten umfassender anhand von Erzählungen dargestellt und weitergegeben werden können – Storytelling und Speculative Fabulation – sind für sie wertvolle Instrumente, um Wissen in neuen Zusammenhängen zu diskutieren.
Raoul Schrott ist Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Mit seinem 850 Seiten umfassenden Werk Erste Erde gelingt ihm eine neue literarische Form, in der er ein vertieftes Wissen über die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Entstehungsgeschichte unseres Planeten mit einzelnen Erzählungen zu einem zeitgenössischen Epos über das große Ganze verbindet. Das Rohmaterial, aus dem er sein schriftstellerisches Werk formt, ist Fachwissen. Dabei bedient er sich an den Erkenntnissen der Astrophysik, Geologie, Chemie, Biologie und Paläontologie. Schrott sammelt Fakten und erarbeitet aus ihnen neue sprachliche Figuren und neue Erzählungen, die sowohl eine mikroskopische Einsicht ins Individuelle als auch die makroskopische Aufsicht auf das Gesamte ermöglichen. Eine immense Anzahl wissenschaftlicher Fakten dient ihm folglich als Rohstoff, den er mit den Mitteln der Poesie formt und umgestaltet und so ein verinnerlichtes Erfühlen von Zusammenhängen und sinnstiftenden Erkenntnissen erzeugt. Die Wissenschaft bekommt in seinem Werk eine poetische Stimme; eine emotionale Kraft aus der heraus man die Zusammenhänge der Dinge, alles Lebenden, in der Unermesslichkeit der Zeit zu erfühlen meint.
Mit offenen Augen durch die Welt gehen
Alles auf der Welt und in der Welt erzählt Geschichten seiner Entstehung, seines Werdens und seines Vergehens. Wenn wir mit all unserem Wissen nicht verlernen aufmerksam zu schauen, zu beobachten und zu staunen, dann kann es uns gelingen, Zusammenhänge nicht nur kognitiv, sondern auch emotional zu erleben. Wissen in Verbindung mit realen Erlebnissen kann dazu beitragen, in Resonanz zu treten, eine Verbundenheit mit uns und allem Lebenden zu erzeugen, und daraus eine Begegnung in gegenseitiger Achtung zuzulassen – weg vom schnellen Gebrauch und der reinen Zweckmäßigkeit des Anderen.
Wissenschaft und Kunst als gemeinsame Vermittler von Wissen
Die Herausforderung sowohl für die Wissenschaft als auch für die Kunst besteht darin, immenses Wissen derart in die Lebensrealität der Gesellschaft einzubringen, dass sich daraus neues, tragfähiges Realitätsverständnis und Handeln ableitet. Ein Handeln, das nicht allein das Wohl und das Wachstum für die menschliche Art ins Auge fasst, sondern auch das aller anderen Lebewesen, die in systemischer Verbundenheit unsere Erde erst zu einem belebbaren Planeten gemacht haben und machen. Denn die systemische Verbindung aller organischer und anorganischer Lebewesen sowie aller chemischen Prozesse auf diesem Planeten, erschließt sich dank wissenschaftlicher Kenntnisse immer mehr. Es sind Erkenntnisse, die bereits vor Jahrzehnten der Biophysiker James Lovelock und die Mikrobiologin Lynn Margulis unter dem Begriff „Gaia“ als wissenschaftliches Theorem veröffentlicht haben. Ihre wissenschaftlichen Thesen waren der Auslöser für die Akzeptanz eines neuen Verständnisses über die Zusammenhänge unseres Planeten als stoffwechselnde Entität. Die Wissenschaft bietet die Methoden strukturierter Informationssammlung und somit der Konstruktion von Plausibilitäten, die eine Deutung des Realen ermöglichen.
Die Künste – die bildende Kunst, die Poesie, die Literatur und die Musik – können abstraktes Wissen auf die Dimension des Körpers oder des Individuums zurückführen. Sie können eine emotionale Nahbarkeit herstellen, die nicht über die Abstraktion der sprachlichen Begrifflichkeiten und mathematischen Formeln Theoreme großer Denkkonstrukte bilden. Die bildende Kunst tut dies mit der Materialität der Dinge, im Umgang mit Stoffen, die als Metaphern und Allegorien ein anderes Verstehen erzeugen können. Poesie und Literatur haben das Wort als Material, das sie formen und mit denen sie Bilder schaffen. Kunst berührt den Menschen anders – sie erzeugt ein Wissen, das nicht allein mit dem Verstand, sondern auch durch Intuition, Einfühlungsvermögen und Kreativität eine Wirklichkeit herausfiltern und deuten kann.
In der Ausstellung Trees of Life standen die Exponate aus der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung nicht nur als wissenschaftliche Belege, sondern sie waren Fragmente von der Welt im Verlauf ihrer Evolution. Sie ermöglichten uns, einen Bezug zu Zeiten herzustellen, die so unermesslich sind, dass man sie in Zahlen ausdrücken, aber emotional nicht zu begreifen und zu empfinden vermag.
Millionen von Jahre sind vergangen, seit die Erdoberfläche noch keine feste Form angenommen hatte und sich die flüssige Materie noch nicht zu ausgehärteten Oberflächen ausgebildet hatte, die im späteren Verlauf auseinander trieben und sich zu den Kontinenten zusammenschoben, auf denen wir heute leben. Doch auch wenn wir die reale zeitliche Dimension dieser Entwicklung nicht vollständig begreifen können, so ist von der Wissenschaft bewiesen worden, dass alle Elemente, aus denen unsere Körper und die aller anderen Lebewesen bestehen, vor Millionen von Jahren aus kosmischem Material entstanden sind. Im Hinblick auf den Stoffwechsel und die Zellfunktion, die nach speziellen Taktungen agieren und unser Leben stark bestimmen, hat jedoch auch die Wissenschaft noch keine vollständigen Erklärungen gefunden und wir verstehen deren Regeln noch immer nicht in ihrer Gänze.
Aus Sicht der Evolutionstheorie hat sich aus wenigen Elementen über unfassbar gedehnte Zeiträume Leben in einer unglaublichen Vielfalt an Formen entwickelt. Darunter sind Lebensformen, die existiert haben und wieder vom Planeten verschwunden sind – wir leben in einem ständigen Wechsel aus Vermehrung und Zerstörung.
Die Objektivität des wissenschaftlich mathematischen Verständnisses ist Garant für ein rationales Durchdringen größerer Zusammenhänge und erlaubt uns gleichzeitig eine emotionale Distanz aufrecht zu erhalten, die uns von dem inneren Wissen abspaltet – von dem Gefühl, als Teil eines Zusammenhangs zu existieren. Womit wir erneut bei der Idee des Dualismus Mensch-Natur angekommen sind, der während der Aufklärung, mit Descartes Behauptung einer Differenz zwischen dem Schöpfer und der Welt und somit zwischen dem Menschen und der Natur aufgestellt wurde und der ein wesentlicher Teil unserer westlichen, post-aufklärerischen Auffassung wurde.
Dieses Denkmodell hat Risse bekommen. Auch dank zahlreicher wissenschaftlicher Erkenntnisse und einer grundlegenden Infragestellung des gesellschaftspolitischen Theorems, nach dem jede Handlung und Aktion unter rein ökonomisierten Aspekten priorisiert wird. Die Natur ist zu reinem Rohstoff der globalen Produktion geworden und Lebewesen sind zu Biomasse transformiert, die unter der Perspektive der Gewinnmaximierung und dem (menschlichen) Wachstumspotential untergeordnet werden.
Unser heutiges Bild des Menschen, der sich außerhalb von der Natur über sie stellt und als reine Ressource für seine ökonomischen Aktivitäten betrachtet und nutzt, steht immer häufiger in der Kritik und wird als eine der Ursachen für die Klimaveränderung und das massive Artensterben verantwortlich gemacht. Heute erleben wir das sechste planetare Phänomen massiven Artensterbens. Das letzte dieses Ausmaßes wurde vom Einschlag eines Meteoriten auf die Erde verursacht und löschte alle Dinosaurier sowie unzählige Lebensformen aus. Heute erleben wir das jüngste Massensterben in der Geschichte unseres Planeten, das wesentlich durch menschliches Handeln unter dem Diktat der Gewinnmaximierung verschuldet ist.
Wir wissen heute von der Relevanz komplexer Zusammenhänge und wie sehr das Leben des Menschen von dem Leben unzähliger anderer Wesen abhängt. Notwendig ist also eine neue holistische Sichtweise auf die Verwobenheit aller Dinge miteinander und ein Wissen um die gegenseitigen Abhängigkeiten. Das tradierte Denkkonstrukt von Ursache und Wirkung erscheint angesichts des Bewusstseins um die Komplexität von Wechselwirkungen als zu vereinfachend. Es bedarf eines systemischen Denkens, das Wissen als endlosen Prozess von ständig neuen Feed-Back-Schleifen auffasst, die sich aus einzelnen Ursache-Wirkung Mechanismen immer wieder aufs Neue generieren und so als ständig aktualisierte Zwischenergebnisse betrachtet werden können. Wissen zu besitzen ist von zentraler Wichtigkeit, aber wir müssen dieses Wissen auch anwenden.
Ein sinnvolles Zusammenspiel von Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft
Wissenschaft und Politik sind schon seit jeher in der westlichen Gesellschaft miteinander verwoben, spätestens dort, wo es um die Vergabe von Fördermitteln für wissenschaftliche Forschung oder die Implementierung von neuem Wissen, innovative Materialien und neue Methoden in der Wirtschaft geht. Hier agiert Wissenschaft nicht mehr allein im freien Denkraum forschender Tätigkeit, sondern wird zum Instrument ökonomischer Anwendbarkeit. So wurden zum Beispiel in den 1960er Jahren die Erkenntnisse von Lynn Margulis um ein symbiogenetisches Bild des Lebens stark angegriffen und ihre Forschung nicht gefördert. Denn die Forschungsergebnisse führten zu Erkenntnissen, die ein etabliertes gesellschaftliches und politisches Bild in Frage stellten. Damit ist konkret die Idee gemeint, dass Darwins Evolutionstheorie nur unter dem Aspekt des „survival of the fittest“ zu verstehen sei. Diese verkürzte und tendenziöse Interpretation von Darwins Gedanken um die Prinzipien der Evolution wurden von Ökonomen aus der University of Chicago behauptet, die damit eine amerikanische finanz-liberale gesellschaftliche Betrachtungsweise propagierten. Darwin wurde als Lieferant eines Prinzips der Vormacht des Stärkeren umgedeutet. Seine These wurde zu einer verfälschten Analogie zwischen Evolution und Kapitalismus benutzt. Sie wurde zu einem Narrativ um die genetische Auslese als natürliches Gesetz, als Erfolgsmodell der Natur, in der sich der Stärkere durchsetzt, umfunktioniert. Das von der kapitalistischen These aufgestellte Bild des Wettbewerbs und die Auslese der „Schwächeren“ als natürliches Erfolgsprinzip, können dem Menschen und dem gesamten Planeten zum Verhängnis werden.
Margulis hingegen trat den Gegenbeweis an und gab der von Andreas Schimper bereits 1883 aufgekommenen Idee des Lebens als symbiogenetische Entwicklung ein wissenschaftliches Fundament, mit dem Leben unter dem Prinzip der Symbiose, also einer nützlichen Kooperation unterschiedlicher Lebewesen, hat stattfinden und sich weiterentwickeln können. Margulis erkannte die Risiken einer Übertragung von Begriffen (wie z.B. „Competition“ oder „Cooperation“) und Worten als Metaphern von einem in den anderen Denkraum. So erfüllt zum Beispiel der von Lovelock für seine wissenschaftliche These gewählte Name „Gaia“ (der griechischen Göttin der Erde) nicht die esoterische Sehnsucht nach einer alles umarmenden Mutter Natur, noch will das symbiogenetische Evolutionsmodell von Margulis das Ringen und die Härte des Überlebenskampfes als Prinzip in Frage stellen. Gaia steht bei Lovelock und Margulis für die physiologisch regulierte Erde. Diese Wissenschaftler plädierten für die Anerkennung der Komplexität von Zusammenhängen und sprachen sich gegen vereinfachte Modelle aus. Sie entwickelten ohne die Hilfe eines akademisch-ökonomischen Apparates ein radikal anderes Denkmodell, das im 21. Jahrhundert als etablierte These gilt und nun zur Schablone gesellschaftlicher und politischer Modelle wird.
Somit haben diese Wissenschaftler den heutigen Stand der Wissenschaft dahingehend verändern können, dass von drei wesentlichen Theorien über die Entstehung und Evolution des Lebens – also von drei Evolutions-Narrativen – ausgegangen wird: dem Darwinismus, der Symbiogenese und dem Gentransfer. Zufall und natürliche Auslese sind somit nicht mehr die einzig verfügbaren Bilder, die uns die Vielfalt aller Lebewesen erklären, sondern auch dass Veränderungen auch über zahllose Fusionen und Übernahmen von Organismen seitens Mikroorganismen entstanden sein könnten. Somit verfügen wir heute über drei Kreativprinzipien.
Nach dem aktuellen Wissensstand funktioniert der sich verzweigende Baum als visuelle Metapher für das Evolutionsgeschehen nicht mehr. Ein neues Modell für die Evolution hat sich bereits etabliert. Das Bild, das heute als plausibel gilt, ähnelt einem dreidimensionalen Netzwerk, bei dem die klassische darwinistische Verzweigung, die symbiogenetisch fusionierenden Abstammungslinien und zusätzlich feinste Querverbindungen, die durch horizontalen Gentransfer zwischen den Arten entstehen in einem System koexistieren.
WissenschaftlerInnen wie Donna Haraway, Anna Lowenhaupt Tsing, Ursula Heise, Bruno Latour oder Philipe Descola und viele weitere VertreterInnen einer Wissenschaftsdeutung diskutieren fächerübergreifend darüber, welche Perspektive von welchen AkteurInnen in der Diskussion um das Anthropozän eingenommen werden. Es geht ihnen um die Frage nach der Deutungshoheit und somit nach dem Standpunkt, von dem aus Erzählungen über die Ursachen und Auswirkungen von Klimawandel oder der Verlust der Biodiversität entstehen und wie diese das gesellschaftliche Bewusstsein beeinflussen. Die WissenschaftlerInnen fragen danach, welche „Erzählungen“ aus der Forschung und Wissenschaft sich in der Allgemeinheit durchsetzen. Sie untersuchen die Entstehung des gesellschaftlichen Werteverständnisses, d.h. welche Erzählungsmuster es überhaupt in die öffentliche Aufmerksamkeit schaffen und dort ethische und moralische Regeln verändern.
Die WissenschaftlerInnen diskutieren darüber, welche ihrer Argumente in der Gesellschaft kulturelle Meinungen dahingehend verändern, dass sie medial rezipiert werden und politische Handlungen nach sich ziehen. Es ist erstaunlich, dass seit Jahrzehnten das Wissen um massive klimatische Veränderung von der Wissenschaft kommuniziert wurde, aber erst eine sechzehnjährige Schwedin die öffentliche Meinung mit einem solchen emotionalen Identifikationsfaktor erreicht hat, sodass international die Figur der Greta Thunberg zu einem Phänomen geworden ist, um das auch politische Akteure nicht mehr hinwegsehen können und ihre „weiter so“-Haltung beibehalten können. In einer medial vernetzen Gesellschaft, in der sich dank rasanter Kommunikationsgeschwindigkeit einzelne Erzählungen viral verteilen, und sich die Politik nach diesen medialen Großereignissen richtet, erhält die Frage nach der Macht von Erzählungen einen besonderen Stellenwert. Diese Narrative sind vielleicht flüchtig und in einer nervösen Aufmerksamkeitsökonomie besonders schnelllebig doch können sie zur Initialzündung für reale Veränderung werden. Hier liegt auch das Potential der verschiedenen Künste, die ebenfalls mit der Kraft von Bildern und individuellen Sichtweisen die Menschen dort erreichen, wo die Abstraktion nüchterner Zahlen eine zu glatte Oberfläche bietet.
Es geht nicht darum, Wissen mit Glauben zu ersetzen, aber es geht darum, mit den Wissenschaften, dank der verfügbaren Erkenntnisse und Informationen eine neue gesellschaftliche Ausrichtung und ein neues Verhalten zu erzeugen.
Die Anwendbarkeit und der gesellschaftliche Nutzen von spezialisiertem Fachwissen entstehen erst dann, wenn dieses in einem größeren Kontext gedacht und mit Wissen aus anderen Bereichen kombiniert wird. Wissenschaftliche Daten und Fakten sind nicht selbsterklärend – es bedarf einer Bewertung und Interpretation, um daraus gesellschaftlich relevante Haltungen entstehen zu lassen, die auch kollektives Handeln nach sich ziehen. Und hier können die Gesellschaftswissenschaften, die Künste und die Philosophie dazu beitragen, mit den diversen Naturwissenschaften in einem stetigen Prozess Weltansichten zu überprüfen.
Es liegt an uns, zu handeln!
Die aktuellen Umwälzungen haben in zahlreichen Disziplinen den Diskurs um neue Denk- und Handlungsmodelle angeregt und verbreitet. Jeder in unserer Gesellschaft sollte sich die Frage stellen, wie es, angesichts der immensen Anzahl von wissenschaftlichen Faktoren und der als Beweis für diese zu beobachtenden Phänomene – wie beispielsweise unzählige Extremwetterphänomene und das bedrohliche Artensterben – dazu kommen kann, dass sich der große Einfluss der Leugnern des Klimawandels weiterhin halten kann. Aber auch die Frage danach, warum wir alle nicht willens oder in der Lage sind, unser enormes Konsumverhalten an unseren Wissensstand über die Faktizität der Korrelation hin auszurichten, sollte uns beschäftigen. Bereits nach kurzer Betrachtung dieser Frage wird uns die kognitive Dissonanz der menschlichen Natur sehr deutlich vor Augen geführt.
Vielleicht fehlen uns neue große Erzählungen über das zerstörerische Selbstverständnis des Menschen und seinen Einfluss auf die negativen Veränderungen unserer Welt. Im besten Fall sollten uns diese die Schnelligkeit vor Augen halten, mit der wir über die technischen Möglichkeiten des menschlichen Eingriffs in die natürlichen Prozesse verfügen und die Natur somit immer mehr zerstören – und im Umkehrschluss unseren eigenen Lebensraum auslöschen.
Für all das Wissen, das heute existiert, fehlen uns zum Teil die Bilder, die Allegorien und Mythen, um uns die faktischen Informationen zu filtern und zu einem großen Ganzen zusammenführen, von dem wir uns als Teil begreifen können. So kann Kunst, indem sie innerhalb eines öffentlichen Diskurses mit dem Wissen aus den zahlreichen Disziplinen Abgleichungen vornimmt und daraus Erzählungen für unsere menschliche Sicht der Welt und wie wir mit dem was wir von ihr wissen leben können, Sinn schaffen.
Kuratorin: Franziska Nori; Wissenschaftliche Beratung: Philipe Havlik